Unser Autor ist seit mehr als 15 Jahren leidenschaftlicher Gamer. In unserer Kolumne "Gefühlsgelaber über Games", die unserem gleichnamigen Podcast entspringt, beschäftigt er sich regelmäßig damit, wie Spiele uns mitreißen können – und wie diese virtuellen Welten uns auch in der Realität beeinflussen können. Der folgende Text ist spoilerfrei.

Einer Freundin schickte ich kürzlich einen kurzen Videomitschnitt aus dem neuen Assassin's Creed. Darin zu sehen war, wie ich mit Bayek, der Spielfigur, gemächlich auf einem Kamel durch die Wüste von Gizeh ritt. Plötzlich kreuzten Banditen auf Pferden meinen Weg. Mit einer Keule schleuderten sie mich aus dem Sattel in den Sand. Ich musste kämpfen, besiegte sie, die Reise konnte weitergehen. Video vorbei.

Die Reaktion meiner Freundin zeigte mir, wie sehr sie diese kurze Szene, schlecht abgefilmt mit dem Smartphone, beeindruckte. Ultragut gemacht sei das, schrieb sie. Und die Wüste erst, die sei wunderschön.

Das drückt gut aus, was ich über unzählige Spielstunden am großen Bildschirm durchgängig selbst dachte. Dieses Spiel ist schlicht eine Augenweide. Und mehr als das.

Diese Spielwelt!

In Assassin's Creed Origins, dem mittlerweile neunten Teil der Reihe, schicken die Entwickler*innen mich ins Alte Ägypten, etwa 49 Jahre vor unserer Zeitrechnung, also zur Zeit Kleopatras. Ägypten war zu dieser Zeit schon seit Hunderten Jahren unter griechischer Fremdherrschaft. Um einen verbrecherischen Orden zu stoppen, der die Menschen schikaniert und Politik unterwandert, werde ich in ihrem Auftrag der letzte Medjai von Ägypten. Die Medjai waren eine Art Polizei, die sich um größere und kleinere Probleme der Bevölkerung kümmern sollte. Später treffe ich unter anderem auf Julius Cäsar.

Trotz dieser spannenden Prämisse sind Narrativ und Charaktere nicht die Hauptrolle in diesem Spiel. Es ist diese weitläufige Spielwelt, die ich frei erkunden darf, voll mit Menschen, die ihren eigenen Tagesabläufen folgen, essen, schlafen und fest an ein Leben nach dem Tod glauben. Es ist diese dichte, mystische Atmosphäre, die sich dadurch vor mir entfaltet.

Irgendwann im späteren Spielverlauf entgleitet Bayek beim Anblick der Großen Sphinx, dass sie ja gar nicht so groß sei, wie er erwartet habe. In der Tat: Einige Prachtbauten, Obelisken, Statuen oder Säulen wirken dagegen gigantisch. Das alles lässt mich als Spieler erahnen, welches Verständnis von Größe die Menschen in dieser Zeit gehabt haben mussten.

Ich schlich in nur einer Woche durch die Cheops-Pyramide, schlenderte durch die große Bibliothek, kletterte auf den Leuchtturm Alexandrias und besuchte den Tempel des Ptah in Memphis, das einst Hauptstadt Ägyptens war. Alles Orte, die es wirklich gab, in Architektur und Größe so realgetreu wie möglich dargestellt. Ich erkundete im Sand versunkene Grabkammern, tauchte im Quarun-See nach Schätzen, bestritt Wagenrennen im Lageion-Hippodrom und und und.

Wie ein interaktiver Geschichtsunterricht

Wann immer ich dachte, jetzt kann aber wirklich nichts mehr kommen, überraschte mich das Spiel mit einem neuen interessanten Schauplatz. Obwohl die Macher*innen den Spaß im Vordergrund halten wollten, fühlte ich mich beim Spielen durch Detailliebe teilweise wie im Geschichtsunterricht oder einem interaktiven Museumsbesuch.

Einmal beobachtete ich eine Frau an einem Marktstand, die kleine Anubis-Figuren klopfte und verkaufte. An einer anderen Stelle hörte ich zu, wie ein Arzt seinem Schützling in einem Tempel nahe des Nils den Vorgang des Mumifizierens erklärte, während er eine Tote einbalsamierte. In einem alexandrischen Badehaus schimpften die Männer über zu teure Steuern.

Es ist schon faszinierend: Wer sich neugierig durch diese Spielwelt bewegt, kann nicht nur einiges lernen, sondern sich einen tatsächlichen Eindruck des Lebens im Alten Ägypten machen. Diesem Potenzial ist sich das Entwicklerstudio von Ubisoft durchaus bewusst. Anfang 2018 soll ein kostenloses Update das Spiel um eine Art Lern-Modus erweitern, bei dem man ganz ohne Kämpfe durch Ägypten ziehen kann, komplett mit Audioguide und eingeblendeten historischen Fakten.

Um so eine Kulisse zu gewährleisten, zog Ubisoft alle Register. Vier Jahre lang wurde das Spiel entwickelt, Hunderte Menschen waren daran beteiligt, darunter nicht nur Gamedesigner*innen. Um die Spielwelt authentisch darzustellen, engagierte das Studio für die Recherche Fotograf*innen, Historiker*innen, Ägyptolog*innen und Archäolog*innen. Auch wenn Ubisoft dazu keine offiziellen Zahlen herausgibt: Die Entwicklung dürfte mehr gekostet haben als so mancher Blockbuster.

Eine Wüstenregion derart abwechslungsreich zu gestalten, das allein ist schon eine Kunst für sich. Dass die Geschichte rund um Bayek dann noch so stimmig und emotional erzählt ist, macht aus dem neuen Assassin's Creed einen modernen Klassiker. Und jetzt entschuldigt mich, Kleopatra erwartet mich.