Update: Dieser Beitrag wurde am 9. September überarbeitet. Wir haben die äußerlichen Beschreibungen der Protagonist*innen entfernt, weil sie keine Rolle für das Thema spielen.

Selbstgemachte Aufstriche und Marmelade, Tomaten und Äpfel, eine Auswahl an Brot – entweder selbstgebacken oder aus dem kleinen Bioladen in der Nähe: So sieht das Frühstück in der WG von Julia, Steffi und Tina aus. Mit Bio-Cidre stoßen sie an, auf Tina, die gerade erst eingezogen ist.

Die Suche nach einer geeigneten Mitbewohnerin habe mehrere Monate gedauert, erklären Julia und Steffi. Gerade einmal fünf Interessent*innen hatten sich auf ihre Onlineanzeige gemeldet. Dabei ist die Altbauwohnung in Potsdam-West saniert und geräumig, die Gegend begehrt und die Miete erschwinglich. Die Wohnung hat vier Zimmer auf 125 Quadratmeter, Eichenholzparkett und gläserne Flügeltüren, die zum Esszimmer und zu zwei der drei Schlafräumen führen. Warum dann nur so wenig Bewerber*innen? Julia und Steffi leben in einer Öko-WG, Nachhaltigkeit ist das höchste Gebot. Da hinein passt nicht jede*r. "Wir waren uns einfach nicht sicher, ob sie unsere WG-Philosophie praktisch leben wollen und nicht nur theoretisch teilen", so Steffi. Letztlich fanden sie in Tina eine Mitbewohnerin, die sie bereits aus ihrem Freundeskreis kannten – von Demos und Kleidertauschevents.

Wenn die Mitbewohner*innen-Wahl so schwer fiel, wie sieht die WG-Philosophie dann aus? Wie konsequent lebt ihre Öko-WG?

Ein Leben ohne Plastik und mit Spaß am Selbermachen

Als Julia vor einem Jahr zum ersten Mal nach Mitbewohner*innen für ihre Öko-WG suchte, waren ihr besonders folgende Punkte wichtig: ein plastikarmes Leben, der Bezug von Ökostrom, die Versorgung mit regionalen Biolebensmitteln und Spaß am Selbermachen. Am Frühstückstisch erzählt die 31-Jährige, dass sie heute ein Kleid trägt, das gleichzeitig als Longshirt oder als Schal getragen werden kann. Gekauft hat sie es bei einem Bio-Label in Berlin. Neben ihr am Tisch sitzt ihr guter Freund Mohamed, Mitte dreißig. Er ist in ein Buch über Wildkräuter vertieft. Schräg gegenüber sitzt Steffi. Die 30-Jährige sagt: "Ich habe gestern wieder Leute in der S-Bahn darauf hingewiesen, dass sie mit To-Go-Bechern die Umwelt zerstören", berichtet sie Tina. Diese nickt wissend und wirkt dabei ernüchtert.

So laufen Gespräche in einer Öko-WG ab. Passt Tina wirklich hinein? "Ich habe Biologie studiert und mache jetzt Seife", erklärt Tina, die mit ihren 34 Jahren die WG-Älteste ist. Tina arbeitet für eine Potsdamer Seifenmanufaktur, die unter anderem den lokalen Unverpacktladen maßVoll beliefert. Hier zählen Steffi und Julia zur Kundschaft der ersten Stunde.

Ein großer Bogen um Biosupermärkte

Dass ein konsequent nachhaltiges Leben über den Wechsel des Stromanbieters und den Verzicht auf Plastiktüten hinausgeht, ist für die drei Frauen selbstverständlich. Seit einem Jahr macht Julia einen Bogen um die großen Biosupermärkte. "Zu viele Lieferketten, kaum regionale Produkte, zu viel Verpackung und schlechte Bezahlung der Landwirte", erklärt sie. An ihren letzten konventionellen Einkauf im Supermarkt oder beim Discounter kann sie sich nicht erinnern.

Julia und Steffi engagieren sich in der Solidarischen Landwirtschaft, kurz: Solawi. Hier unterstützen sie mit 80 Euro im Monat und rund fünf Feldeinsätzen pro Jahr die Arbeit einer Hofgemeinschaft im Potsdamer Ortsteil Grube. Im Gegenzug erhalten sie einen Teil der Ernte und haben Einfluss auf die Arbeit des Hofes. Sie können mitbestimmen, welches Gemüse angebaut wird und tragen dabei auch das Risiko für Ernteausfälle mit.

Im Sommer holen Julia und Steffi einmal in der Woche ihren Ernteertrag aus dem nahegelegen Solawi-Depot in der Potsdamer Erlöserkirche ab, im Winter seltener, denn da gibt es nur die lagerfähigen Sorten wie Kartoffeln und Wurzelgemüse. Zurzeit essen sie viel frischen Salat und Kräuter – das ist zu wenig, um allein von Solawi-Erzeugnissen satt zu werden.

Bei Haferflocken bin ich oft im Zwiespalt.

Ein großer Teil ihrer Lebensmittel – vor allem Trockenware wie Kerne und Getreide – kommt daher aus dem Unverpacktladen. Nicht selten geht der Einkauf mit Kompromissen einher: "Bei Haferflocken bin ich oft im Zwiespalt", erklärt Steffi. "Die sind nicht regional. Im Regioladen gibt es welche, aber die sind in Kunststofffolie verpackt." Für Zweifelsfälle wie diese hat Julia eine Flockenquetsche angeschafft. Damit kann sie Getreide selbst zu Frühstücksflocken zerdrücken. Trotzdem wird auch das Angebot der kleinen Bio- und Regioläden in Anspruch genommen – nur nicht bei Wurst und Käse. Tierische Produkte gibt es selten und nur dann, wenn Julia und Steffi gerade einen Bio-Hof besucht haben.

Preiswert ist das nicht. Trotzdem sind die beiden überzeugt, dass jede*r in Deutschland so leben könnte wie sie. Kein eigenes Auto, weniger Genussmittel, keine Fertiggerichte und Urlaub in der Nähe. Wichtig sei auch der Rückhalt in der Gemeinschaft, ergänzt Steffi. "Man muss sich einfach viel mehr gegenseitig helfen."

Fliegen, aber mit CO2-Ausgleich

Wenn sie nicht gerade saisonal und regional einkaufen, dann zumindest fair. Ein paar Mal im Jahr gibt Julia eine Großbestellung über exotische Lebensmittel bei einer Fairhandelsorganisation auf. Das bedeutet mit Verpackung und langen Transportwegen leben zu müssen – aber auch mit dem guten Gefühl, die Menschen vor Ort zu unterstützen. "Es ist uns wichtig, dass mit dem Gewinn gerechte Lebens- und Arbeitsbedingungen geschaffen werden", sagt Julia. Vor einem Jahr konnte sie sich bei einer Rundreise durch Lateinamerika selbst ein Bild von den dortigen Agrarflächen machen. Um den Flug mit ihrem Gewissen vereinbaren zu können, zahlte sie einen freiwilligen CO2-Ausgleich in Höhe von 170 Euro und strich Flugreisen für die nächsten fünf Jahre aus ihrer Urlaubsplanung.

Im Esszimmer hängt eine große Weltkarte mit gelben Klebezetteln, die auf vier Kontinente verteilt sind. Physalis aus Peru, Feigen und Maulbeeren aus der Türkei, Datteln aus Tunesien und Orangen aus Italien. "Damit erkläre ich Emily, wo unser Essen sonst noch herkommt", lächelt Julia. Emily ist ihre Tochter aus einer früheren Beziehung. Die Siebenjährige ist gerade nicht da, aber sie hat am Fenster mit schwarzen Wachsmalstiften eine Botschaft in Richtung Hauptstraße hinterlassen: "Ir Autos seit so blöt."

Politisches Engagement spielt für alle eine große Rolle. Im Küchenkalender ist eingetragen, welche Aktionen in Kürze anstehen und wer aus der WG vor Ort sein wird. "Das ist praktisch, weil man nicht mehr zu allen Veranstaltungen gehen muss", sagt Tina. "Man kriegt viel mehr mit als die ganzen Einzelkämpfer."

Zu den wichtigen Aktionen zählen für sie Klimaproteste. Im September hat Julia ihre Arbeitszeit auf 20 Stunden reduziert, damit sie einen Master in strategischem Nachhaltigkeitsmanagement machen kann. Seitdem hat sie auch mehr Zeit für Demos. Mohamed begleitet sie dabei regelmäßig. Der angehende Bauingenieur zählt stolz auf, wo sie schon überall zusammen waren: Kohlestopp, Europa für alle, "Wir haben es satt!".

In Julias Zimmer herrscht organisiertes Chaos. Neben einem klapprigen alten Wäscheständer, der solange genutzt wird, "bis es nicht mehr geht", liegen Hefter auf dem Boden verteilt, die jeweils einem Projekt zugeordnet sind. Blau für Solawi, gelb für kommunale Aktionen wie das Aktionsbündnis Potsdam autofrei und orange für Madia – das vegane, gemeinschaftlich organisierte Café, in dem Julia regelmäßig aushilft. Auf einer großen Mindmap, die unter ihrem selbstgebauten Hochbett hängt, hat Julia die wichtigsten Bereiche ihres Lebens zusammengetragen. Unter "Aufklärung der Bevölkerung" fällt beispielsweise, dass sie Unternehmen anschreibt und diesen vorschlägt, zu einer sozial- und ökologisch-vertretbaren Bank zu wechseln.

"Wollen wir es trotzdem probieren?"

Doch momentan beschäftigt die drei Frauen noch eine andere Sache. Am Frühstückstisch wird darüber abgestimmt, ob die WG für vier Wochen einen Menschen aufnehmen kann, der über das Mittelmeer nach Europa geflüchtet ist. "Es muss euch klar sein, dass er mit unserem Konzept wahrscheinlich nichts anfangen kann", erklärt Julia. "Wollen wir es trotzdem probieren?" Tina nickt. Steffi stimmt verhalten zu. Die Aussicht auf ein Zusammenleben mit jemandem, der sein Essen in herkömmlichen Supermärkten einkauft, macht sie nicht gerade glücklich.

In Steffis Zimmer steht ein großer Fernseher. Kein Smart-TV, sondern ein kaputter Röhrenfernseher aus den 1960er Jahren, den sie auf dem Sperrmüll gefunden hat. Natürlich nur zur Dekoration. Darüber hängt eine passende Wanduhr, die Steffi im Sozialkaufhaus erstand. Ihr Schreibtisch ist eine umfunktionierte alte Nähmaschine. Darauf liegen Briefe von der Arbeitsagentur. Vor kurzem hat die Ökoaktivistin ihre Stelle beim Landesverband Brandenburg von Bündnis90/Die Grünen aufgegeben.

"Die Politik ist mir nicht konsequent genug", erklärt Steffi, die zwei Bachelorabschlüsse hat – einen in Medienkommunikation und einen in Kulturwissenschaft. Sie möchte gerne in die Nachhaltigkeitsbildung gehen und am liebsten Arbeit mit Privatem verbinden. Eine Stelle in der großen Nachbarstadt Berlin kommt für sie schon allein wegen der regelmäßigen S-Bahn-Pendelei nicht infrage. Für Steffi steht fest, dass sie eines Tages in einer Gemeinschaft wie dem Ökodorf Sieben Linden leben möchte – einer sozial-ökologischen Modellsiedlung, die sich genossenschaftlich finanziert und ihre umweltbewussten Werte trägt.

Julias Ziele sind eher praktischer Natur und lassen sich auch mit einem konventionellen Leben vereinbaren. "Mit meinem Master möchte ich mir eine Stelle als Nachhaltigkeitsbeauftragte schaffen." Die Zeichen dafür stehen gut. In dem Unternehmen, in dem sie für das Informationsmanagement zuständig ist, hat Julia eine Umwelt-AG gegründet. In der vergangenen Woche wurde bereits der Wechsel zu einem nachhaltigen Büroartikelhersteller besprochen.

Wurmkompost und Spülmaschine?

Langsam wird es unruhig am Frühstückstisch und die ersten räumen ihr Geschirr in die Küche. Der dort aufgestellte Wurmkompost findet bei allen große Zustimmung, Uneinigkeit herrscht beim Thema Spülmaschine. Julia und Emily benutzen sie, Steffi spült lieber von Hand. "Hier wird niemand terrorisiert, wenn er eine andere Meinung hat", sagt Julia strahlend.

Gleich wollen sie und Mohamed aufbrechen, um Gemüse aus dem Solawi-Depot abzuholen. Mohammed, der in einem Studierendenwohnheim in Berlin lebt, ist Nachhaltigkeitsanfänger. Damit er sich daran gewöhnt, vernünftig einzukaufen – wie sie es nennen–, bezahlt Julia seine Mitgliedschaft in einer Foodcoop – einer kleinen Einkaufsgemeinschaft, die das Sortiment in einem Berliner Bioladen selbst bestimmt. Mit einer Mitgliedschaft bezahlt er beim Einkauf zehn Prozent weniger.

Mohamed wirft einen vorsichtigen Blick in Richtung Flur, in dem sich Julia gerade anzieht. Er hat ein leises Geständnis zu machen: "Ich geh da nicht immer einkaufen", sagt er. "50 Meter vom Studierendenwohnheim gibt es einen Netto", fügt er entschuldigend hinzu.

Julia nimmt es gelassen, denn sie weiß, dass die Umstellung schwer ist. "Neulich schmorte Hähnchen bei ihm im Topf. Als ich reingeschaut habe, war mir gleich klar, dass das konventionelles ist. Der bezahlt doch keine zehn Euro für ein Hähnchen!", sagt sie schmunzelnd. Mitgegessen hat sie nicht.

Vorkochen statt auswärts essen

Bei der Ernährung nehmen es Julia und Steffi ganz genau: vorkochen statt auswärts essen. Das gilt auch für Einladungen bei Familie und Freund*innen. "Früher habe ich noch Rücksicht genommen, inzwischen nehme ich mir mein Essen selber mit", sagt Steffi über die Besuche bei ihrer Mutter. "Meine Eltern verstehen einfach nicht, dass mir ein Bio-Käse von Rewe nicht konsequent genug ist", ergänzt Julia. "Wenn es sein muss, fahre ich mit dem Fahrrad vier Kilometer zum einzigen Bioladen im Ort, wenn ich zu Besuch in Güstrow bin."

Ehe sich die Wege der drei Frauen für heute trennen, finden sich noch einmal alle in der sonnigen WG-Zentrale – dem Esszimmer – zusammen.

Zeit zum Runterkommen vor der nächsten Aktion bleibt nur jetzt. Julia lässt sich auf ihren Stuhl sacken und atmet tief durch. Dann bleibt ihr Blick an einem großen staubigen Regal hängen, in dem sich lauter Brettspiele stapeln. "Dafür finden wir einfach keine Ruhe", seufzt sie. Und Steffi stimmt ihr zu: "Wir machen halt immer so viel Nachhaltigkeitsscheiß."