Wenn Chriss auf die Frauentoilette ging, riefen andere Mädchen: "Ey, geh doch aufs Männerklo!" Dann ging Chriss trotzdem weiter, schloss sich in einer Kabine ein und schämte sich. Bei der Zeugnisvergabe lachten viele, als "Christiane Moldovan" aufgerufen wurde und Chriss zur Bühne ging. Im Bus packten ein paar Jungs Chriss beim Kragen und fragten: "Was bist du? Bist du ein Junge oder bist du ein Mädchen?"

Heute kann Christian Moldovan diese Frage beantworten: Er ist intergeschlechtlich, kam mit Geschlechtsmerkmalen auf die Welt, die nicht in die Norm von weiblich oder männlich passten. Als er ein Jahr und einen Monat alt war, entschieden die Ärzt*innen, ihn zu operieren und sein Genital zu feminisieren. Er wurde im Alter von vier Monaten als Junge getauft und später als Mädchen eingeschult. Jetzt ist der 28-Jährige ein Mann. 

Eine ärztliche Fehlentscheidung

Christian hat schon früh gewusst, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Er hat sich anders entwickelt als die Mädchen in seinem Alter. Bekam eine tiefe Stimme anstatt Brüste. Hatte kurzgeschnittenes Haar, spielte Fußball, gewann beim Armdrücken und schlug sich mit Jungs. "Ich habe mich eigentlich schon immer wie ein Junge benommen. Auch wenn ich intersexuell geboren wurde, bin ich ein männliches Individuum", sagt er.

Bei Christians Geburt sahen seine Genitalien anders aus als bei anderen Babys: Die Harnröhre verlief nicht durch den Penis, sondern trat zwischen den Hodensäcken hervor. Das Glied war dort mit einem Häutchen befestigt und deshalb ein bisschen gekrümmt. Daraufhin untersuchten die Ärzt*innen Christians Chromosomensatz. Das Ergebnis: Ein X- und ein Y-Chromosom – also männlich. Sie überprüften zusätzlich, ob Christian eine Prostata hatte. Und diese deuteten sie fälschlicherweise als Vagina. Daraufhin wollten Mediziner*innen Christian operieren. "Meine Eltern wurden damals quasi gezwungen. Es hieß, dass es besser für mich sei, weiblich erzogen zu werden. Und dass ich ohne die OP nicht glücklich werde", sagt Christian. "Und dann war ich eben gar nicht glücklich. Jahrelang.""

Auf diese Art und Weise rechtfertigen Ärzt*innen noch heute Operationen am Genital, sagt Katja Sabisch, Professorin für Gender Studies an der Ruhr-Universität Bochum. Dabei argumentierten sie nicht medizinisch, sondern alltagsweltlich und soziologisch. Dagegen gebe es Studien, die belegen, dass Kinder, die mal als Junge aufwachsen und mal als Mädchen, soziale Akzeptanz erfahren. "Vor allem im Kindergarten und in der Grundschule funktioniert das ganz gut und die Vermutung, diese Kinder würden aufgrund ihrer geschlechtlichen Vielfalt diskriminiert, kann nicht bestätigt werden", sagt Sabisch.

Und dann war ich eben gar nicht glücklich. Jahrelang.
Christian

Christians beste Freund*innen haben ihn im Kindergarten mit seinem weiblichen Namen kennengelernt. Mit zwölf Jahren hat sein Vater mit ihm das erste Mal über seine Intergeschlechtlichkeit gesprochen. "Als Kind habe ich das noch nicht begriffen und es war richtig schlimm für mich", sagt Christian. "Ich habe geweint und gefragt: 'Ja wie, bin ich jetzt doch kein Mädchen?'" Mit 15 hat er es seinen Freund*innen erzählt. "Sie haben ja selbst gesehen, dass ich mich nicht in Richtung Mädchen entwickelt habe", sagt er. "Und sie haben es gut aufgefasst. Ich denke, gute Freunde, die einen von klein auf kennen – für die ist das kein Problem."

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Eltern intergeschlechtlicher Kinder haben vor allem Fragen und Sorgen, die den Alltag betreffen. Sabisch hat mit Eltern und Ärzt*innen über die Versorgungssituation und Beratungsmöglichkeiten gesprochen. Die von ihr durchgeführte Studie belegt, dass es nach wie vor großen Handlungsbedarf in den Krankenhäusern NRWs gibt. "Intersexuelle Kinder werden überall geboren. Es gibt zwar Behandlungsleitlinien, die raten, von einer überstürzten Operation abzusehen. Doch die Frage ist: Wird den Leitlinien auch in den kleinsten Krankenhäusern entsprochen?"

Kein Rückgang an vermeidbaren, kosmetischen Operationen

Eine 2016 erschienene Studie von Ulrike Klöppel, Mitarbeiterin des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin, kommt zu dem Schluss, dass diese medizinischen Leitlinien in der klinischen Praxis nur lückenhaft umgesetzt werden. Kosmetische Eingriffe – die wie in Christians Fall vermeidbar wären – seien demnach 2005 bis 2014 nicht wesentlich zurückgegangen.

Pro Jahr fanden durchschnittlich 1.729 Operationen an Kindern unter zehn Jahren statt. Zwar gebe es einen Rückgang an feminisierender und maskulinisierender Genitaloperationen bei den herkömmlichen, eng gefassten Diagnosen von Intergeschlechtlichkeit. Dazu gehören beispielsweise die Diagnose Hermaphroditismus, wenn bei einer Person sowohl Eierstöcke als auch Hoden vorhanden sind. Dagegen gebe es einen Anstieg bei Diagnosen, die im weiteren Sinne intergeschlechtliche Ausprägungen umfassen. Damit sind beispielsweise Ergebnisse von Hormontests oder andere angeborene Fehlbildungen der Genitalorgane gemeint.

Fehlbildung ist der medizinische Begriff. Inter* sehen das intergeschlechtliche Genital nicht zwingend als Fehlbildung – es ist eben eines, das nicht in die Norm von weiblich oder männlich passt. 

Bei den Operationen handelt es sich um kosmetische Eingriffe – oft im Kleinkindalter. Inter*-Verbände kritisieren die Operationen als Menschenrechtsverletzungen, da alle Menschen selbst über den eigenen Körper entscheiden sollten. Wie auch in Christians Fall führen die Operationen meistens nicht dazu, dass die Personen glücklicher aufwachsen als ohne Operation. Noch bis er 18 Jahre alt war, hat Christian sich oft als Chriss oder Chrissie vorgestellt.

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"Ich hasse den Namen Christiane bis heute. Nichts gegen den Namen an sich. Es ist so gesehen ein schöner Name", sagt er. Er wollte sich nur nicht gleich vor allen rechtfertigen müssen. Mit 18 Jahren ließ Christian sich ein Gutachten über seine Intergeschlechtlichkeit erstellen und beantragte die Namensänderung. Er habe sich seine männliche Identität juristisch zurückgeholt, sagt Christian. Ein halbes Jahr musste er darauf warten. 

Schmerzen statt ein funktionsfähiges Geschlecht

"Intersexualität ist so ein großes Spektrum. Bei mir war es dieser Schönheitsfehler", sagt Christian. In den meisten Fällen kommt es wie bei ihm zu feminisierenden Genitaloperationen – also einer Veränderung der Geschlechtsteile ins Weibliche. Bei Christian haben die Ärzt*innen den Hodensack aufgeschnitten, sodass er nach Schamlippen aussieht. Das Glied versetzten sie nach innen. "Die haben das durch die OP noch schlimmer gemacht. Sie haben mir Schmerzen zugefügt. Und das ist so kein funktionsfähiges Geschlecht. Die haben echt Scheiße mit mir gebaut und ich habe jahrelang darunter gelitten", sagt Christian.

Geschlechtsverkehr kann er – so wie es jetzt gerade ist – nicht haben. "Ich spüre da schon so eine Art Erektion. Aber es fühlt sich nicht richtig an. Man sieht auch Narben. Es ist die einzige Stelle an meinem Körper, die ich richtig hasse."

Eine Freundin, die nur "Sex in der Birne" hat, wie Christian sagt, könne er nicht gebrauchen. Er hatte schon mehrere Beziehungen. Aber es sei schwierig, eine Frau zu finden, die zu ihm steht. Am liebsten würde er gern eine intergeschlechtliche Frau kennenlernen. Die könnte ihn vielleicht besser verstehen. Momentan sei er höchstens in einer Beziehung mit dem Fitnessstudio, sagt Christian und lacht. 

Christian macht Bodybuilding und möchte vielleicht irgendwann damit auf die Bühne gehen – dabei sollte seine Intergeschlechtlichkeit kein Problem darstellen. Anders geht es einigen intergeschlechtlichen Athletinnen.

In der Welt des Sports wird strikt zwischen zwei Geschlechtern unterschieden. Bei der Leichtathletik-WM 2009 siegte die Südafrikanerin Caster Semenya im 800-Meter-Lauf. Doch es wurden Stimmen laut, sie sei keine Frau. Tatsächlich ergab eine Untersuchung im selben Jahr, dass die Athletin intergeschlechtlich ist. Sie selbst hatte das bis dahin nicht gewusst. Nach einer darauffolgenden Entscheidung des Leichtathletik-Weltverbandes mussten intergeschlechtliche Athletinnen Medikamente zu sich nehmen, um ihre männlichen Sexualhormone auf ein niedrigeres Niveau zu drücken. Ein Niveau, das dem ihrer Konkurrentinnen ähnlich ist und somit einen fairen Wettkampf gewährleisten sollte. Der internationale Sportgerichthof CAS hat diesen Grenzwert 2015 aufgehoben und mehr wissenschaftliche Belege des Leichtathletik-Weltverbandes gefordert. Das war das Ergebnis der Klage der indischen Sprinterin Dutee Chand. 

Bundesverfassungsgericht hat dritte Option beschlossen

Außerhalb der Welt des Sports hat die intergeschlechtliche Person Vanja mit Erfolg geklagt. Das am 8. November 2016 gefallene Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur dritten Option bietet neue Chancen für intergeschlechtliche Menschen. "Geschlechtliche Vielfalt wird durch den öffentlichen Diskurs sichtbarer", sagt Professorin Sabisch. Intergeschlechtlichkeit ist jetzt kein Tabuthema mehr. Und das sei wichtig für die gesamte Gesellschaft. Denn das Verkleinern der Klitoris oder die Entnahme von Hoden seien nicht mit Menschenrechten vereinbar. Über solche massiven Eingriffe sollte ein Mensch selbst entscheiden dürfen, sagt Sabisch. 

Durch die dritte Option stehen Ärzt*innen nicht mehr unter dem Druck, zwischen zwei Geschlechtern wählen zu müssen. Als intergeschlechtlicher Mensch selbst entscheiden zu können: Das ist auch der Wunsch von Christian. Wenn er genug Geld dafür hat, möchte er sich einer weiteren, gewollten Operation unterziehen und sich einen Penis machen lassen. Er steht mittlerweile zu sich selbst. Christian sagt: "Ich habe mir selbst die Schuld darangegeben – bestimmt bis ich 21 war. Das ist das Problem der meisten intersexuellen Leute. Obwohl wir eigentlich gar nichts dafür können."

Anmerkung: In einer vorherigen Version dieses Texts schrieben wir, dass Christians Chromosomensatz aus 46 XY-Chromosomen bestand. Das war falsch. Das Ergebnis waren ein X- und ein Y-Chromosom. Das Ergebnis eines Mannes.