Seit über 35 Jahren fotografiert Jürgen Matschie im Lausitzer Braunkohlerevier. Er hat erlebt, wie Dörfer verschwanden und Menschen ihre Heimat verloren.

Als Neunjähriger stand Jürgen Matschie zum ersten Mal am Grubenrand eines Braunkohletagebaus. Das war 1962. Mit der Schulklasse radelte er zum Tagebau Lohsa. An das, was er beim Blick über die Grube empfand, erinnert er sich bis heute: "Wenn man oben am Rand steht, überkommt einen die Angst, reinfallen zu können. Die großen Maschinen und Menschen unten wirken winzig. Es ist ein bedrohliches Gefühl."

Gut zwanzig Jahre später fuhr Matschie erstmals selbst in einen Tagebau ein – als Fotograf, nicht als Bergarbeiter. Für ein Fotoprojekt erhielt er zusammen mit anderen Fotografen die Genehmigung, den Tagebau Jänschwalde zu besuchen, der bis heute existiert. Den studierten Ingenieur faszinierte alles: "Die gigantische Technik, die über fünfzig Meter hohe Erdschicht, die abgetragen wird, um an die drei Meter dicke Kohleschicht zu kommen", erinnert sich Matschie, "meine vier bis fünf Kilometer langen Fußmärsche mit Kameras und Stativ von einem Ende des Tagebaus zum anderen, der Lärm, die Sonne, die Hitze, der Staub."

Dieser Besuch ist der Beginn eines Fotoprojekts, das Matschie die nächsten 25 Jahre beschäftigen wird: Brunica, wie Braunkohle im Sorbischen genannt wird, Leben mit der Braunkohle – so heißt der Bildband, das Ergebnis der jahrelangen Suche nach Motiven und Geschichten. Es ist nicht nur der technische Aspekt, der ihn beschäftigt, sondern wie die Menschen in den Dörfern rund um den Grubenrand leben. "Was bedeutet es für ein Dorf, die Menschen, in Nachbarschaft mit dem Tagebau zu leben?", ist eine von Matschies Leitfragen. "Ein Leben mit dem Wissen, auch einmal betroffen zu sein, Haus und Hof aufgeben zu müssen. Später, nach der Kohle, ist nichts mehr da davon."

Leben mit der Braunkohle

Matschies Bilder porträtieren einen alten Konflikt, der bis heute existiert: "Einerseits ist die Kohleindustrie mit den Tagebauen, den Brikettfabriken, den Kraftwerken der Arbeitgeber für tausende Menschen in der Lausitz, andererseits bedeutet die extensive Ausbeutung des Bodens den Verlust von Heimat", schreibt Matschie im Vorwort seines Buches. Einige der Orte, die Matschie fotografiert hat, gibt es heute nicht mehr – zum Beispiel das Dorf Horno.

Horno musste 2004 dem Tagebau Jänschweide weichen. Die meisten Bewohner*innen zogen in den etwa zehn Kilometer entfernten, neu errichteten Stadtteil Neu-Horno in der Kreisstadt Forst. 1977, also noch zu DDR-Zeiten, fiel der Beschluss, dass Horno Einzugsgebiet des Tagebaus werden sollte. An diesem Entschluss änderte auch die Wende nichts – trotz des Protests der Bevölkerung.

Laut Angaben des Aktionsbündnisses Zukunft statt Braunkohle sowie der Uni Halle haben in der Lausitz seit 1945 über 25.000 Menschen ihr Zuhause verloren, weil sich ihre Häuser auf Kohlefeldern befanden. Etwa 135 Siedlungen wurden devastiert. Devastierung ist ein anderes Wort für Zerstörung und wird häufig im Zusammenhang mit Ortsverlagerungen aufgrund des Braunkohlebergbaus verwendet.

Früher Feuerwehrfeste, heute Stille

In vielen Dörfern ist es deutlich ruhiger geworden, beispielsweise in Grötsch. Aufnahmen von Matschie aus den 1980er-Jahren zeigen Dorffeste, Kinder mit Bratwürsten in den Händen, Rentner*innen, die zur Musik einer Blaskapelle tanzen, während Jugendliche mit Händen in den Hosentaschen am Rand stehen. Bilder, die vom Leben zeugen. 1993 wurden Teile des Dorfes devastiert, 45 Bewohner*innen mussten umgesiedelt werden.

Die Bagger des Tagebaus Jänschweide haben mittlerweile Teile des einstigen Ortes abgerissen. Grötsch ist jetzt ein Sackgassendorf, die Straße nach Forst gibt es nicht mehr. "Das Dorf hat so lange funktioniert, bis die ersten Häuser aufgekauft wurden und die ersten Bewohner in eine andere Siedlungen umzogen", erzählt Matschie. "Das waren überwiegend junge Familien mit Kindern. Und die Älteren, die nicht neu bauen oder umziehen wollten, die wurden sozusagen alleine gelassen."

Matschie war 2015 das letzte Mal dort, als die Gemeinde zur Erinnerung an die zerstörten Häuser und umgesiedelten Einwohner*innen einen Gedenkstein errichtete. Darauf sind die Familien verzeichnet, die ihr Heimatdorf verlassen mussten.

Der Fotograf stellte fest, dass die gebliebenen Dörfler*innen sich inzwischen mit der Situation arrangiert und sogar ein neues Selbstbewusstsein entwickelt haben. Denn nun, da der Tagebau weitergezogen ist, soll die Fernverkehrsstraße nach Forst wieder errichtet werden. "Es hingen Plakate im Ort, die dagegen protestierten: Wir wollen weiter unsere Ruhe haben. Wir haben den ganzen Dreck ausgehalten, haben uns schön eingerichtet und jetzt sollen wir wieder an die Welt angebunden werden, aber den ganzen Fernverkehr, den wollen wir hier nicht haben", berichtet Matschie.

Die ersten Umweltproteste

Auch den Protest gegen geplante Umsiedlungen hat Jürgen Matschie fotografiert. Zum Beispiel in dem Dorf Klitten. Vor der Wende hätten etwa zwei Dutzend Menschen, die Teil der Kirchengemeinde waren, Umweltproteste organisiert, erinnert sich Matschie. Die anderen hätten diese Proteste eher belächelt. "Die Menschen bekamen die Bescheide darüber, dass sie wegziehen müssen, in den 70er-Jahren, noch zu DDR-Zeiten: Da wurde nicht diskutiert." Dann kam 1989 die Wende und die Frage: Wie soll es weitergehen mit der DDR-Industrie? "In einigen Regionen, die abgebaggert werden sollten, regte sich daraufhin massiver Widerstand", erzählt Matschie. In Klitten war die Bevölkerung erfolgreich: Die neu gewählte Volkskammer beschloss, den Tagebau einzustellen.

Die Proteste ließen aber auch einen Riss zum Vorschein kommen, der durch viele Dörfer ging: Zwischen denen, die nicht wegziehen wollten, die forderten, dass der Bergbau eingestellt werde – und denen, deren Arbeitsplätze damit auf dem Spiel standen. "Mitte der 90er-Jahre sind Gewerkschaftler, also Bergleute, in die Dörfer gegangen, in denen es Proteste von Leuten gab, die nicht wegziehen wollten, und haben sie unter Druck gesetzt: Ihr vernichtet unsere Arbeitsplätze, warfen sie den Dorfbewohnern vor", erinnert sich Matschie. Auch in Klitten bedeutete die Stilllegung des Tagebaus den Verlust von Arbeitsplätzen in der Region.

Alle Dörfer, die Matschie besuchte, haben eines gemeinsam: Sie werden oder wurden überwiegend von Sorb*innen bewohnt. Matschie selbst kommt aus einer sorbisch-deutschen Familie. Für ihn bedeutet die Zerstörung sorbischer Dörfer die Zerstörung sorbischer Kultur. "Selbst wenn die Menschen umsiedeln und als Dorf zusammenbleiben: Es ist nicht mehr das alte Dorf mit den alten Gegebenheiten. Wo jeder Weg und jedes Feld im Bewusstsein der Leute einen Namen und eine Geschichte hat."

Dies mache das Weitergeben der sorbischen Kultur und Sprache an jüngere Generationen schwierig: "In einer künstlich geschaffenen Heimat ist es schwer, eine Sprache zu vitalisieren, die ohnehin nur noch sehr schwach noch am Leben ist." Für Matschie ist außerdem ein gewisser Wohlstand Voraussetzung dafür, dass die Leute ein Bewusstsein für Sprache, für das Sorbische entwickeln könnten. Die Menschen kämen vom Dorf – da hätten andere Sachen Priorität. Die meisten Jüngeren wüssten zwar, woher sie kämen, aber das Fortführen von Sprache und Kultur sei ihnen nicht so wichtig, sagt Matschie.

Der Konflikt heute

Es gibt noch ein sorbisch geprägtes Dorf in der Lausitz, das von Devastierung betroffen ist: Mühlrose. Der Tagebau Nochten begann bereits vor fünfzig Jahren, am Dorfrand zu nagen und wird vermutlich 2020 erneut das Dorf erreichen. Rund 180 Menschen wohnen noch dort. Viele Bewohner*innen wünschen sich, dass das ganze Dorf umgesiedelt wird, sodass die Gemeinschaft erhalten bleibt. Im März 2019 wurde ein Umsiedlungsvertrag zwischen der Gemeinde und der LEAG, welche die ostdeutschen Braunkohletagebaue und -kraftwerke betreibt, unterzeichnet. Doch einige Bewohner*innen kämpfen weiter gegen die Devastierung, sie wollen bleiben.

Serbski Sejm, die frei gewählte sorbische Volksvertretung sowie Umweltverbände haben im Juli 2019 eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht, warum Mühlrose nicht abgebaggert werden darf. Der Kohleausstieg sei bundesweit beschlossene Sache, der Abbau von Kohle keine gesellschaftliche Notwendigkeit mehr. Außerdem dürfte das kulturelle Erbe des Dorfes nicht weiter zerstört werden.

In Mühlrose ist eines der symbolkräftigsten Fotos von Matschie entstanden: Eine Familie sitzt im Gras eines Sportplatzes, im Hintergrund ragen die Geräte des Tagebaus Nochten in den Himmel. Das Bild transportiert ein Gefühl der Hilflosigkeit, der Resignation der Menschen, sich nicht gegen die Industrie, die Technik, die Politik wehren zu können. "Es zeigt das alltägliche Umgehen mit der Industrie, die eigentlich menschenunfreundlich ist, weil sie vieles zerstört", sagt Matschie.

Der Bildband Bruncia – Leben mit der Braunkohle ist mehr als ein Buch voller Fotos. Es ist ein historisches Zeugnis, Matschie Chronist einer vergangenen Zeit. Die Fotos zeigen sorbische Dörfer, die vom Tagebau ganz oder teilweise zerstört wurden. Und eine Kultur, die oftmals mit betroffen war. Die Fotos sind überwiegend aus den 80er- und 90er-Jahren – die Konflikte, die sie beschreiben, gibt es bis heute. Die Frage, was mehr wiegt: Arbeitsplätze oder Umweltschutz. Der Hunger der Industrie oder die Freiheitsrechte der Menschen. Für den Fotografen Jürgen Matschie ein unauflösbarer Konflikt.

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Der Bildband Brunica – Leben mit der Kohle ist 2011 beim Domowina-Verlag erschienen. Mehr über die Arbeit des Fotografen Jürgen Matschie erfährt man auf seiner Webseite.