"We dance together, we fight together" – unter diesem Motto demonstrierten im Mai 2018 mehrere Tausend überwiegend junge Menschen vor dem Parlamentsgebäude der georgischen Hauptstadt Tiflis. Die Großdemonstration richtete sich gegen die autoritäre und repressive georgische Kulturpolitik, die auf die Zerstörung jener subkultureller Räume zielte, in denen Jugendliche und junge Erwachsene für wenige Nachtstunden Orte der Freiheit und Toleranz suchten. Wenige Tage zuvor hatten georgische Sicherheitskräfte in groß angelegten Drogenrazzien mehrere Nachtclubs der Hauptstadt – darunter der legendäre Technoclub Bassiani – gestürmt und waren dabei zum Teil gewaltsam gegen Clubbesucher*innen vorgegangenen.

Boiler Room: Sprachrohr einen jungen Sub- und Gegenkultur

Zu den prominentesten Unterstützer*innen der Großdemonstration zählte die in London ansässige Internetplattform Boiler Room. Die Solidarität mit internationalen, subkulturellen Bewegungen speist sich aus der Entstehungsgeschichte von Boiler Room, dessen Idee buchstäblich im Untergrund geboren wurde: 2010 begannen die Gründer in einem Londoner Heizkeller DJ-Sets zu filmen und ins Internet zu streamen.

Boiler Room wuchs in kürzester Zeit zu einer weltweit vernetzten Streamingplattform für Subkultur und Untergrundmusik heran. Im vergangenen Jahr produzierte Boiler Room über 300 Shows, deren Reichweite das Unternehmen auf weit über 200 Millionen Menschen weltweit beziffert. Daneben fungiert die Plattform als lukrativer Werbepartner von Großunternehmen, die ihren Produkten nicht nur eine zielgruppenorientierte Aufmerksamkeit verschaffen, sondern auch einen Hauch von Underground verleihen wollen.

In der Vergangenheit bezog die Plattform immer wieder Position gegenüber regressiven, antiliberalen gesellschaftlichen Entwicklungen.

Mit vereinzelten politischen Aktionen pflegt Boiler Room jedoch weiterhin sein Image als Sprachrohr einer jungen Sub- und Gegenkultur. Mit Blick auf die Politisierung unterschiedlicher Musikszenen versteht sich das Unternehmen durchaus als einflussreicher Akteur, insbesondere aber als Plattform, um lokalen subkulturellen Communities internationale Sichtbarkeit zu verleihen.

In der Vergangenheit bezog die Plattform immer wieder Position gegenüber regressiven, antiliberalen gesellschaftlichen Entwicklungen. Gemeinsam mit diversen Berliner Clubs unterstützte Boiler Room im Mai 2018 beispielsweise die Demonstration AfD Wegbassen, die sich gegen das Erstarken rechtsextremer Akteure in der bundesdeutschen Politik und Gesellschaft richtete.

Nun hat sich das Unternehmen auf seinem Instagram-Account zu dem seit Jahrzehnten andauernden Konflikt zwischen Israelis und Palästinenser*innen positioniert. In dem Beitrag prangert Boiler Room die Pläne der israelischen Regierung an, Teile des Westjordanlands zu annektieren. Das Statement endet mit dem Aufruf, die BDS-Kampagne zu unterstützen – die von Expert*innen als antisemitisch eingestuft wird. Wenige Tage später wurde dieser Solidaritätsaufruf kommentarlos aus dem Instagram-Beitrag entfernt.

Was ist BDS und welche Forderungen stellt die Kampagne?

Das Kürzel BDS steht für Boycott, Divestment und Sanctions – von beziehungsweise gegen Israel. In Reaktion auf die israelische Politik gegenüber den Palästinenser*innen fordert BDS einen weitreichenden Boykott israelischer Waren und Dienstleistungen und wendet sich gegen jedwede Form von wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Kooperationen mit dem Staat Israel und seinen Bürger*innen. Damit richtet sich die Kampagne nicht nur gegen bestimmte politische Akteure oder Maßnahmen der israelischen Regierung, sondern gegen den jüdischen Staat, seine Institutionen und seine Gesellschaft als Ganzes.

Doch wenn man die von BDS formulierten Grundziele wörtlich und ernst nimmt, geht es der Kampagne bei weitem nicht nur um eine internationale Isolierung Israels, wie oft relativierend behauptet wird. Bereits im Gründungsmanifest von 2005 fordert BDS unter anderem ein Ende der "Besatzung und Kolonialisierung allen besetzten arabischen Landes" – ohne dabei zu erläutern, um welches Territorium es sich dabei konkret handeln soll. Geht es der Kampagne um den Rückzug der Israelis aus der Westbank? Oder wird hier in einer ahistorischen Lesart das Kernland Israels als "arabisches Land" bezeichnet? Und würde damit dann gleichsam die Auflösung des jüdischen Staates gefordert?

Im Engagement für BDS tritt ein Weltbild zum Vorschein, in dem Komplexität und Ambivalenzen dem Bedürfnis nach Widerspruchsfreiheit und Eindeutigkeit weichen.

Die Vagheit der Formulierungen ist Teil der Strategie von BDS. Solche Uneindeutigkeiten lassen enorm viel Interpretationsspielraum, sodass sich ein breites Spektrum von Menschen in den Forderungen von BDS wiederfinden kann – von Befürworter*innen einer Zweistaatenlösung über notorische, selbsternannte "Israelkritiker*innen" bis hin zu radikalen Israelhasser*innen mitsamt ihren Vernichtungsfantasien.

Dass Boiler Room durchaus offen gegenüber einer radikaleren Auslegung jener BDS-Forderung nach einem Ende der Besatzung zu sein scheint, zeigt ihre 2018 veröffentlichte Dokumentation Palestine Underground. Ganz unverhohlen wird darin die Bezeichnung Israel abgelehnt, stattdessen nur von "Occupied Palestine" gesprochen und damit offen die Existenz Israels negiert.

Eine weitere Kernforderung des BDS-Gründungsmanifests thematisiert das Schicksal derjenigen Palästinenser*innen, die nach 1948 – in der Folge des Angriffskriegs fünf arabischer Staaten gegen Israel – ihre Dörfer und Städte verlassen mussten und zu Geflüchteten wurden. Die Vereinten Nationen verliehen ihnen einen Sonderstatus: Nicht nur die tatsächlich geflohenen Palästinenser*innen, sondern auch ihre Nachkommen erhalten den Geflüchtetenstatus – über alle Generationen hinweg bis heute und auch in Zukunft. Damit ist die Zahl der anerkannten palästinensischen Geflüchteten seit den späten 1940er-Jahren bis heute auf über fünf Millionen Menschen angewachsen. Ihnen soll laut der BDS-Kampagne das Recht auf Rückkehr eingeräumt werden.

Sollte diese Kernforderung umgesetzt werden, würden sich die Mehrheitsverhältnisse in Israel dramatisch ändern. Angesichts von gerade einmal neun Millionen israelischen Staatsbürger*innen – davon knapp 6,8 Millionen jüdische Israelis und fast zwei Millionen arabische Israelis – würde eine Remigration von fünf Millionen palästinensischen Geflüchteten nichts anderes bedeuten als das Ende des jüdischen und demokratischen Staates Israel. Dies würde den Verlust des weltweit wichtigsten Schutzraumes für Jüdinnen*Juden vor antisemitischer Gewalt und Verfolgung bedeuten.

Der offene Antisemitismus der BDS-Unterstützer*innen

Die antisemitische Stoßrichtung von BDS zeigt sich jedoch nicht nur in ihrer Programmatik, sondern auch in den Aktionen und Äußerungen zahlreicher Musiker*innen, die die Kampagne seit Jahren unterstützen. Eine der Galionsfiguren von BDS ist Roger Waters, der frühere Bassist der Band Pink Floyd. Bei Konzerten ließ Waters vor einigen Jahren ein überdimensionales schwarzes Ballon-Schwein über das Publikum fliegen, auf dem unter anderem ein Davidstern prangte.

Sein Engagement für BDS verglich Roger Waters mit dem Widerstandskampf der Geschwister Scholl gegen das Naziregime.

Seine antisemitische Weltsicht artikuliert Waters auch abseits der Bühne: Sein Engagement für BDS verglich der britische Musiker unlängst mit dem Widerstandskampf der Geschwister Scholl gegen das Naziregime. Ganz so, als seien das sogenannte Dritte Reich – dessen Politik die massenindustrielle Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden beinhaltete – und Israel – zentraler Zufluchtsstaat der Überlebenden jenes beispiellosen Verbrechens – auch nur ansatzweise gleichzusetzen.

Und erst vor wenigen Wochen verbreitete Waters in einem Interview mit Shehab – einer Nachrichtenagentur, die der palästinensischen Terrororganisation Hamas nahesteht – das klassisch antisemitische Narrativ, wonach die US-Politik von Strippen ziehenden Jüdinnen*Juden gelenkt werde.

BDS und die Clubszene

Boiler Room ist nicht der erste prominente Akteur der Clubszene, der sich mit der BDS-Kampagne solidarisiert. Bereits Ende 2018 hatten sich Szenegrößen wie Ben UFO, The Black Madonna oder Four Tet öffentlich zur BDS-nahen Kampagne #DJsforPalestine zusammengeschlossen. Ihre antiisraelischen Positionierungen eint eine simplifizierende Weltdeutung, die politische Konflikte einzig nach dem Schema Unterdrücker versus Unterdrückte zu betrachten vermag.

Im Kultursektor lässt sich beobachten, wie sich die Sehnsucht nach einfachen gesellschaftlichen Verhältnissen mit einem ausgeprägten künstlerischen Sendungsbewusstsein vereint.

Solche Welterklärungsmuster lassen keinen Raum für eine differenzierte Auseinandersetzung mit einer so hochkomplexen Konfliktkonstellation wie der zwischen Israelis und Palästinenser*innen. Im Engagement für BDS tritt ein Weltbild zum Vorschein, in dem Komplexität und Ambivalenzen dem Bedürfnis nach Widerspruchsfreiheit und Eindeutigkeit weichen.

Besonders im Kultursektor lässt sich beobachten, wie sich diese Sehnsucht nach Ordnung und übersichtlichen gesellschaftlichen Verhältnissen mit einem ausgeprägten künstlerischen Sendungsbewusstsein vereint. Künstler*innen und DJs, die sonst kaum mit politischen Statements in Erscheinung treten, bietet der antiisraelische Aktivismus einen willkommenen Anlass, sich punktuell und öffentlichkeitswirksam als Kämpfer*in für die angeblich gerechte Sache zu inszenieren. Und das bei minimalem Risiko: Ein Gig in Tel Aviv mehr oder weniger schlägt finanziell kaum ins Gewicht, der moralische Distinktionsgewinn scheint ihnen hingegen sicher.

Dabei kennzeichnet sich das antiisraelische Engagement durch einen bemerkenswerten Doppelstandard. Ein Auftritt in einem Land mit einer autoritär und repressiv agierenden Regierung wird als Unterstützung der jeweiligen Kulturszene gedeutet. Ein Auftritt in Israel hingegen gilt – unabhängig vom Publikum – als Verrat an der vermeintlich guten Sache.

Was bedeutet das für Jüdinnen*Juden weltweit?

Besonders problematisch an diesem Free-Palestine-Aktivismus ist, dass er das Klima innerhalb subkultureller Räume prägt, in denen sich auch Juden*Jüdinnen bewegen. Und ein Schulterschluss mit der BDS-Kampagne bedeutet in letzter Konsequenz den Ausschluss all jener Akteur*innen, die in der Lesart der BDS-Kampagne als Mitglieder eines zu bestrafenden Kollektivs gelten. Das sind zuvorderst israelische Künstler*innen, aber auch jüdische Musiker*innen anderer Staatsangehörigkeit sowie all jene, die sich der Unterwerfungslogik der BDS-Kampagne – "Entweder du bist für uns oder du bist Teil des Problems" – entziehen.

2015 wurde beispielsweise der amerikanische Sänger Matisyahu auf Druck der BDS-Kampagne vom spanischen Reggaefestival Rototom Sunsplash ausgeladen. Dem lokalen BDS-Ableger genügte die Tatsache, dass Matisyahu (bürgerlich Matthew Miller) Jude ist, um ihn als einzigen Musiker des Festivals zu einer antiisraelischen Stellungnahme zu nötigen.

Besonders problematisch an diesem Free-Palestine-Aktivismus ist, dass er das Klima innerhalb subkultureller Räume prägt, in denen sich auch Juden*Jüdinnen bewegen.

Als Matisyahu sich weigerte, strich die Festivalleitung ihn aus dem Line-up. Nach internationalen Protesten wurde die Ausladung wieder zurückgenommen: Matisyahu durfte auftreten – und blickte bei seinem Konzert auf zahllose riesige Palästina-Flaggen, die BDS-Anhänger*innen im Publikum schwenkten.

Die Liste antisemitischer Äußerungen und Aufrufe von Unterstützer*innen der BDS-Kampagne ließe sich fortführen. Sie alle sind die Konsequenz ihrer im Kern antisemitischen Programmatik und deren zunehmender Akzeptanz im Kultursektor. Dass dies konkrete Folgen für Jüdinnen und Juden hat, wird dabei in Kauf genommen. Sowohl in den USA als auch in England und Frankreich lässt sich seit einigen Jahren eine verstärkte Präsenz und Mobilisierungsfähigkeit von BDS an den Universitäten beobachten, die mit einer steigenden Zahl von verbalen und physischen Angriffen auf jüdische Studierende einhergeht.

Dass diese Tendenzen durchaus das Potential besitzen, auch auf Deutschland überzuspringen, zeigt ein Vorfall an der Berliner Humboldt-Universität vor wenigen Jahren, als bei einer Diskussionsveranstaltung die Shoah-Überlebende Dvora Weinstein von BDS-Aktivist*innen niedergebrüllt wurde.

Durch ihre implizite und explizite Unterstützung von BDS machen sich Boiler Room und andere Protagonist*innen der Szene mit einer im Kern antisemitischen Kampagne gemein, selbst wenn ihre Solidaritätsbekundungen scheinbar mehr auf Unkenntnis und Ignoranz fußen als auf einer tiefsitzenden Verachtung alles Jüdischen.

Dass nicht alle Sympathisant*innen der BDS-Kampagne explizit die Auflösung des Staates Israels anstreben, ändert nichts an der Tatsache, dass sie eine Kampagne unterstützen, die genau das bewirken will. Denn eine Umsetzung der Kernforderung von BDS bedeutete ein Ende des jüdischen Staates und damit ein Ende der jüdischen Selbstbestimmung und der jüdischen Wehrhaftigkeit, die es angesichts des weltweit grassierenden Antisemitismus (leider) dringend braucht.

I play for people, not governments.
DJ Honey Dijon

Dass eine programmatisch antisemitische und – wie prominente Beispiele zeigen – antisemitisch agierende Kampagne zunehmend in subkulturelle Räume vordringt, deren Akteur*innen sich vorwiegend als links, progressiv, liberal und weltoffen verstehen, sollte allen Beteiligten zu denken geben.

Für diese gefährliche Entwicklung fand DJ Honey Dijon bereits vor zwei Jahren auf Twitter deutliche Worte: "All of you people critizing me about playing in Israel, when you come to America and stand up for the murder of Black trans women and the prison industrial complex of Black men then we can debate." Und fügte hinzu: "I play for people, not governments."