Wahlergebnisse von bis zu 58 Prozent für eine Partei, das klingt nach der CSU in Bayern zu ihren Höchstzeiten. Tatsächlich erreichte aber auch die CDU einst diese Werte – und zwar nach der Wende in Sachsen. Das ostdeutsche Bundesland ist das einzige in Deutschland, in dem seit 1990 das Amt des Ministerpräsidenten durchgehend von einem CDU-Politiker besetzt wurde. 14 Jahre lang, von 1990 bis 2004, regierten die Christdemokrat*innen in Sachsen sogar mit absoluter Mehrheit.

Von solchen Wahlergebnissen ist die Partei heute weit entfernt. 30 Jahre nach dem Mauerfall könnte bei den kommenden Landtagswahlen in Sachsen die AfD die Partei mit den meisten Wähler*innenstimmen werden und eine schwarz-blaue Koalition rein rechnerisch die naheliegendste Regierungsvariante sein. Wahlumfragen von Infratest dimap sahen Anfang August beide Parteien bei 26 Prozent. An dritter Stelle folgten mit 15 Prozent die Linke, dann die Grünen mit 12 Prozent.

Wer sich fragt, was in Sachsen los ist, muss auch fragen, was die CDU dazu beigetragen hat.

Dass die CDU in Sachsen über Jahrzehnte regiert hat, habe das Bundesland zu einem demokratiepolitischen Entwicklungsland gemacht, sagt Vize-Ministerpräsident Martin Dulig (SPD). Die CDU ist die größte Fraktion im sächsischen Landtag, bei den Landtagswahlen 2014 ging überhaupt nur ein Direktmandat an eine*n Politiker*in einer anderen Partei, an Jule Nagel von der Leipziger Linken. Kurzum: Wer sich fragt, was in Sachsen los ist, muss auch fragen, was die CDU dazu beigetragen hat.

Der erste CDU-Ministerpräsident Sachsens, Kurt Biedenkopf, trug den Beinamen König Kurt oder etwas bescheidener: Landesvater. Biedenkopf kam aus Westdeutschland nach Dresden. In Nordrhein-Westfalen war er zuvor schon auf dem politischen Abstellgleis gelandet. In Sachsen war Biedenkopf beliebt, vermittelte den Bürger*innen neues Selbstwertgefühl und trieb den wirtschaftlichen Aufschwung der Region voran.

In seiner Amtszeit prägte er vor allem einen Satz: "Die Sachsen sind immun gegen Rechtsextremismus." Etliche Ereignisse hätten ihm das Gegenteil beweisen müssen: 1991 kam es in Hoyerswerda zu rassistischen Pogromen auf mosambikanische und vietnamesische Vertragsarbeiter*innen und Geflüchtete. Vor allem in der Provinz wurden national befreite Zonen ausgerufen. Paramilitärische Organisationen wie Sturm 34 in Mittweida und die Skinheads Sächsische Schweiz entstanden. 2004 zog die NPD in Sachsen mit 9,2 Prozent der Stimmen zum ersten Mal in einen ostdeutschen Landtag ein und blieb dort bis 2014.

Seine Aussage bekräftigte Biedenkopf selbst 2017 noch in der ZEIT. In einem anderen Interview würdigte er Pegida als eine "sächsische Innovation". Für Biedenkopf sei das Abtun des Rechtsextremismus eine Imagefrage gewesen, sagt sein damaliger Innenminister Heinz Eggert rückblickend. Sachsens Wirtschaft ging es gut, rechte Umtriebe störten da nur und hätten Investor*innen aus dem Ausland abschrecken können.

Sachsen hat ein Problem mit Rechtsextremismus, und es ist größer, als viele, ich sage ehrlich auch ich, wahrhaben wollten.
Stanislaw Tillich

Gleichsetzen von rechter und linker Gewalt

Das Image Sachsens schützen zu wollen, zieht sich bei der CDU durch. Rechte Gewalt und Rassismus werden zwar nicht explizit entschuldigt, wohl aber kleingeredet und relativiert. Der Rechtsextremismusexperte Hajo Funke spricht von einem Bagatellisieren des Problems durch die CDU. Die Folge seien Situationen wie zuletzt in Chemnitz oder in den Jahren zuvor in Heidenau und Bautzen. Nachdem 2016 in Bautzen etwa 80 Neonazis Geflüchtete durch die Innenstadt jagten und in Clausnitz ein ankommender Bus vor einer Geflüchtetenunterkunft blockiert wurde, fand der damalige Ministerpräsident Stanislaw Tillich vergleichsweise deutliche Worte: "Sachsen hat ein Problem mit Rechtsextremismus, und es ist größer, als viele, ich sage ehrlich auch ich, wahrhaben wollten." Zu dem Zeitpunkt war Tillich bereits acht Jahre im Amt. Der damalige CDU-Fraktionschef im Landtag, Frank Kupfer, wollte das allerdings nicht so stehen lassen und verteidigte die vermeintlich besorgten Bürger*innen. Er plädierte dafür, sich die jahrelange erfolgreiche Politik nicht diskreditieren zu lassen.

Viel folgte aus den Worten Tillichs ohnehin nicht. Wer auf nachhaltige Einsicht gehofft hatte, wurde schon ein halbes Jahr später enttäuscht. Als Reaktion auf die verbalen Angriffe von Bürger*innen auf Angela Merkel und Joachim Gauck bei der Einheitsfeier am 3. Oktober in Dresden sagte der Ministerpräsident in einem Interview, dass es nicht nur die Rechtsextremist*innen gebe, sondern auch die Linksextremist*innen, die unseren Staat bedrohten und die islamistischen Extremist*innen, die unsere Demokratie ablehnten. Das Gleichsetzen von rechter und linker Gewalt ist ebenfalls ein wiederkehrendes Motiv bei der sächsischen CDU. Schon bei Biedenkopf war die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) – die aus der DDR-Einheitspartei SED hervorgegangen war – mitgemeint, wenn vom politischen Extremismus gesprochen wurde. Seine Nachfolger Tillich und Kretschmer behielten das Muster bei und verharmlosten so die Ausmaße von Rechtsextremismus.

Der Verfassungsschutz hat erst kürzlich in seinem Bericht für das Jahr 2018 bilanziert, dass die Anzahl der Rechtsextremist*innen in Deutschland zunimmt. Von den 24.100 Personen bundesweit soll etwa die Hälfte gewaltbereit sein. Seit 1990 gab es mindestens 169 Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland. In dem Buch Unter Sachsen fasst der Dresdner Politikwissenschaftler Dietrich Herrmann für die sächsische CDU zusammen: "Es wurde alles vermischt, anstatt sich klar gegen rechte Gewalttaten abzugrenzen, die nun einmal deutlich häufiger passieren. Man hat es sich zu leicht gemacht."

Wie Biedenkopf sagte auch Tillich einen Satz, der in Erinnerung blieb: "Der Islam gehört nicht zu Sachsen." Er hat ihn nie zurückgenommen.

Verhandeln, wo nichts zu verhandeln ist

Michael Kretschmer wollte vieles besser machen. Bei der Bundestagswahl 2017 verlor der Görlitzer sein Direktmandat an den AfD-Politiker Timo Chrupalla bevor er schließlich Ministerpräsident wurde. Zuvor war er zwölf Jahre lang Generalsekretär der CDU Sachsen gewesen. Kretschmer initiierte die Sachsengespräche. Damit tourt er durch Städte und Provinz und will Bürger*innen zuhören und mit ihnen reden – selbst, wenn es weh tut. Ob das aufgeht, wird sich bei den Landtagswahlen am 1. September zeigen. In welchem Dilemma Kretschmer sich dabei befindet, zeigte sich bereits vor einem Jahr, Ende August 2018 in Chemnitz. In der Stadt war es wenige Tage zuvor nach dem gewaltsamen Tod von Daniel H. zu rassistischen Ausschreitungen gekommen.

Ein stämmiger Mann mit Glatze ergriff das Wort in der Gesprächsrunde. Jemand sei an dem vergangenen Wochenende gestorben und trotzdem schienen die Hitlergrüße für viele das Schlimmste zu sein. Immer nur höre er von Hitlergrüßen. Dafür erhielt er Beifall, der Ministerpräsident beschwichtigte. Ja, sagte Kretschmer, das Schlimmste, was in den vergangenen Tagen in Chemnitz passiert sei, sei der Tod eines Menschen. "Sind wir uns aber auch darüber einig, dass der Hitlergruß nicht okay ist?" Dafür gab es keinen Beifall, der Mann mit Glatze grummelte nur.

Sind wir uns aber auch darüber einig, dass der Hitlergruß nicht okay ist?
Michael Kretschmer

Hitlergrüße sind in Deutschland keine Verhandlungssache, sondern eine Straftat. Der Hitlergruß fällt unter das Verwenden neonazistischer Kennzeichen, Parolen und Grußformen. Wer den Hitlergruß zeigt, kann sich auch wegen Volksverhetzung strafbar machen.

Eine Koalition mit der AfD nach den kommenden Landtagswahlen sei mit ihnen nicht zu machen, haben Michael Kretschmer und auch der sächsische CDU-Generalsekretär Alexander Dierks wiederholt öffentlich gesagt. Eine Umfrage der Initiative Zukunft Sachsen ergab, dass 56 von 60 CDU-Direktkandidat*innen ebenfalls eine Koalition mit der AfD ablehnten. Die Antworten der übrigen vier stehen noch aus. Aber was, wenn Kretschmer erneut in Görlitz sein Direktmandat gegen einen AfD-Politiker – diesmal Sebastian Wippel, der vor Kurzem nur knapp bei der Bürgermeisterwahl in Görlitz unterlag – verliert und die CDU insgesamt ein schlechtes Ergebnis holt? Liegt die Entscheidung dann überhaupt noch in seiner Hand? Auf kommunaler Ebene und in einigen sächsischen Landkreisen, zum Beispiel Meißen oder Freital, ist die Zusammenarbeit zwischen Politiker*innen der AfD und der CDU ohnehin schon Realität.

Beim letzten Parteitag vor der Wahl Ende Juni, wieder in Chemnitz, waren von Kretschmer jedoch Dinge zu hören, die für einen sächsischen Ministerpräsidenten durchaus ungewöhnlich sind. Rechtsextremismus bezeichnete er als eine der größten Gefahren dieses Landes; eine, die für uns alle lebensgefährlich sei. Und dabei verkniff sich Kretschmer sogar ausnahmsweise mal den relativierenden Verweis auf vermeintliche Linksextremist*innen.

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