Wir lebten nach der Bundestagswahl fast ein halbes Jahr ohne Regierung und trotzdem lief's ganz gut. Seltsam ist das nicht, denn pragmatische Politik wird dort gemacht, wo Probleme sichtbar werden: in unseren Städten.

Bürgermeister*innen kümmern sich nicht mehr nur um Schulen und Radwege. Weltweit versorgen sie Geflüchtete, begrenzen Emissionen und bilden Kooperationen. Städte sind heute nicht bloß Brennpunkte globaler Herausforderungen. Sie schleifen mehr und mehr das Brennglas.

Beginnt jetzt die Ära der Städte?

Der US-Politikwissenschaftler Benjamin R. Barber sagt: Ja, bitte! 2013 veröffentlichte er das Buch If Mayors Ruled The Word, in dem er Städte als die Hoffungsträger einer pragmatischen und demokratischen Politik beschreibt. Sein Argument: Politiker*innen handeln in Städten lösungsorientierter, da die Auswirkungen ihrer Entscheidungen für alle konkret spürbar sind. Bürgermeister*innen würden darum "eher die Wasserzufuhr sichern, als den Verkauf von Waffen, eher Bildung und Kultur fördern anstelle von Verteidigung und Patriotismus".

Städten schreibt Barber eine natürliche Tendenz zu, sich miteinander zu vernetzen. In seinem Buch nennt er eine ganze Reihe von städtischen Netzwerken, wie etwa das Klimaschutznetzwerk ICLEI, die Mayors For Peace oder das Weltökonomieforum DAVOS. Bürgermeister*innen würden in solchen Netzwerken als Repräsentant*innen einer Politik von unten auftreten – eine Zuschreibung, die Barber dann auch zur eigentlichen Pointe seiner Ausführung führt: der Forderung eines Weltparlaments der Bürgermeister*innen.

2016, ein Jahr vor seinem Tod, wurde dieses tatsächlich gegründet. Zweimal haben die bisher 61 Mitglieder bereits getagt, im Oktober wollen sie erneut über konkrete Lösungen für globale Angelegenheiten debattieren.

Wo Bürgermeister*innen anpacken

Der Klimawandel ist zweifelsfrei eine dieser besagten globalen Angelegenheiten – und dazu die vielleicht größte Gefahr für Städte. Rund 90 Prozent liegen am Wasser. Kein Wunder also, dass sich US-Bürgermeister*innen dazu entschlossen, gemeinsame Sache gegen Trumps Politik zu machen, als dieser den Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen ankündigte. Unter dem Motto We Are Still In bildete sich so ein Zusammenschluss, dem auch 200 Städte angehören. Die Botschaft an den Rest der Welt ist klar: Entgegen der nationalen Klimapolitik sollen Emissionen weiterhin reduziert werden.

Quer stellen sich ebenfalls die Bürgermeister*innen sogenannter Sanctuary Cities. So heißen die Städte in Nordamerika, die Menschen ohne Papiere vor der Ausweisung schützen. Zusätzlich stellen sie die Versorgung an Kleidung, schulischer Bildung und Gesundheit sicher. Etwa eine halbe Millionen Menschen können so in New York leben, obwohl sie die US-Regierung eigentlich abschieben will. Nach Angaben des Immigrant Legal Resource Center gibt es 39 Sanctuary Cities in den USA. Zu ihnen zählen Chicago, San Francisco und Boston.

Und in Deutschland? Da verweigerte sich Hamburg zwischen 2008 und 2016 der Abschiebung nach Afghanistan, weil diese generell nicht zumutbar sei. Durch die sogenannte Senatorenregelung konnten so 1.000 Personen eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Kurz nachdem Hamburg die Regelung aufhob, beschloss die Bremer Ausländerbehörde das Modell zu übernehmen.

Grenzen für Bürgermeister*innen

Sind Hamburg und Bremen also Beispiele, wo sich Bürgermeister*innen über die nationale Regierung hinwegsetzen, wie es in den USA der Fall ist? "Nur bedingt", sagt Helmut Aust, Rechtswissenschaftler an der Freien Universität Berlin, der zum Recht der globalen Stadt habilitierte. "Wie Abschiebungen gehandhabt werden, entscheiden die Bundesländer. Wenn Bremen nicht nach Afghanistan abschiebt, ist das weniger eine Form städtischer Politik, sondern eher eine der Landespolitik", erklärt er. Dass die Bürgermeister*innen entscheidende Akteur*innen wurden, liege lediglich am Stadtstaat-Status.

Bedeutet: Selbst wenn sich Bürgermeister*innen von Frankfurt oder München Abschiebungen verweigern wollen würden, hätten sie keine Handhabe dafür. Aber auch den Stadtstaaten seien Grenzen gesetzt. Als Bundesländer dürften sie sich nicht komplett gegen die Bundesregierung stellen und niemanden mehr abschieben. "Amerikanische Städte sind hingegen gar nicht erst dazu aufgerufen, das gesamtstaatliche Einwanderungsrecht durchzusetzen. Sie vollziehen Recht der Bundesstaaten und lokales Recht", sagt Aust. In Deutschland könnten Bürgermeister*innen darum nur versuchen, rechtliche Spielräume kreativ zu nutzen, um sich von der Zentralregierung abzugrenzen. Zum Beispiel bessere Versorgungs- und Integrationsangebote anzubieten, als die Bundes- oder Landesregierung vorsieht.

Nicht immer im Sinne der Bewohner*innen

Trotz dieser Beispiele ist klar: Allein das Amt macht Bürgermeister*innen nicht zu Vertreter*innen einer pragmatischeren und demokratischeren Weltordnung. Viele progressive Entscheidungen werden erst auf Drängen ziviler Initiativen getroffen. Diese kämpften beispielsweise in Toronto ganze neun Jahre lang, bis die Stadt endlich zur Sanctuary City erklärt wurde.

Und dann gibt es Bürgermeister*innen, die manchmal sogar das Gegenteil von dem tun, was Bewohner*innen wollen. Wie Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz, der die Staatschef*innen der G20 in die Elbphilharmonie ausführte, während sich Polizei und Gipfel-Gegner*innen Straßenschlachten lieferten. Oder Michael Bloomberg, ehemaliger Bürgermeister von New York, der protestierenden Anwohner*innen für den Bau eines neuen Hochhausviertels enteignete. Beide Fälle mögen auf eine sehr zynische Art zwar pragmatisch sein, eine demokratische Politik von unten ist das aber nicht.

Netzwerke sind die Zukunft

Trotzdem: Benjamin R. Barbers Überlegungen zum demokratischen Potenzial der Städte sind in vielen Hinsichten einleuchtend. Angesichts der vielen Engagements und Kooperationen erscheint die von Barber aufgeworfene Frage, was wäre, wenn Bürgermeister*innen die Welt regierten, beinahe überfällig. Sie tun es vielerorts bereits.

Dem stimmt auch Helmut Aust zu, wenngleich er das Weltparlament der Bürgermeister*innen eher kritisch betrachtet: "Ich glaube, dass momentan wenig am Nationalstaat als zentrale Ordnungseinheit vorbeiführt. In der UN können sich Städte erfolgreich in Netzwerken als relevante Akteure positionieren. Das ist ein Weg, den man weiter bestreiten sollte."