Seit einer Woche lächelt mir aus meinem Kühlschrank ein Blumenkohlkopf entgegen. Seit einer Woche habe ich es nicht geschafft, daraus ein leckeres Gericht zu zaubern. Mittlerweile haben die weißen Röschen braune Stellen bekommen, der Blumenkohl guckt nun traurig. Schweren Herzens schmeiße ich ihn schließlich in den Müll.

Dass wir Deutschen viel mehr Lebensmittel wegwerfen als wir müssten, ist keine neue Information. Trotzdem ärgert es mich – auch an mir selbst. Durchschnittlich 82 Kilogramm Lebensmittel landen pro Person jährlich in der Tonne, das entspricht etwa zwei vollgepackten Einkaufswagen. Davon machen Obst und Gemüse fast die Hälfte aus. Anders als bei meinem offensichtlich verdorbenen Blumenkohl entsorgen wir leider oft auch Produkte, die wir für ungenießbar halten, die es aber meist gar nicht sind. Bestes Beispiel: Milchprodukte, deren Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) abgelaufen ist, die aber eigentlich noch völlig in Ordnung sind. Denn ein überschrittenes MHD assoziieren viele Menschen mit verdorben. Dabei schmecken die meisten Produkte trotzdem noch.Was man von sich selbst kennt, ist auf Verkaufs- und Produktionsseite nicht anders. Allein in Deutschland werden rund 18 Millionen Tonnen an Lebensmitteln jährlich aus den unterschiedlichsten Gründen weggeworfen. Sie alle haben gemeinsam, dass sie im regulären Supermarkt nicht mehr verkauft werden, weil sie nicht der Norm entsprechen. Initiativen wie Restlos Glücklich, ein Restaurant, das mit Resten kocht, oder Foodsharing, eine Plattform zum Teilen, beschäftigen sich schon länger mit dem Thema.

Seit Neuestem gibt es in Berlin zudem einen Supermarkt, der sich der Lebensmittelrettung verschrieben hat. In England und auch in Köln funktionieren ähnliche Ideen bereits. Über Crowdfunding haben die Gründer des Ladens, Martin Schott, Alexander Piutti und Raphael Fellmer, die finanzielle Grundlage für ihr Konzept geschaffen. Insbesondere Raphael hatte sich schon länger mit dem Thema Lebensmittelverschwendung beschäftigt. Fünfeinhalb Jahre lang lebte er ohne Geld und holte sich sein Essen aus den Mülleimern der Supermärkte. Da Containern eigentlich illegal ist, suchte er nach einem legalen Weg, diese Lebensmittel anderen Menschen zugänglich zu machen. Bei

SirPlus, einer Art Food-Outlet, gibt es deshalb nur Produkte, die größere Supermarktketten bereits aussortiert haben.

Als ich davon lese, entsteht in meinem Kopf ein Bild von matschigem Obst und welken Salatblättern mit neonfarbenen Rabattstickern, so wie ich sie von dem kleinen Gittergestell im Supermarkt kenne. Das Außenseitergemüse eben. Sogleich stellt sich mir die Frage, wie man damit Geld verdienen will. Und ist das überhaupt erlaubt? Das will ich sehen. 

So viel Essen

Die erste Filiale des Reste-Supermarktes befindet sich im Berliner Westen. Allein der Standort lässt mich schon schmunzeln. Die Wilmersdorfer Straße vereint allerlei Kaufhäuser und versprüht ungefähr so viel Flair wie eine kleinstädtische Einkaufsstraße. Geschäftige Rentner*innen und kleine Gruppen auf Shoppingtour ziehen vorbei. Einen nachhaltigen Laden dieser Art hätte ich eher im konsumbewussten Prenzlauer Berg vermutet, eingepfercht zwischen Bioläden und Kitas. Wird im Laden überhaupt etwas los sein?

Am Eingang bekomme ich direkt die Antwort. Es wimmelt nur so von interessiertem Publikum, das zwischen den Holzregalen umherschwirrt. Der Shop ist länglich geschnitten und erinnert auf den ersten Blick an einen einfachen Bioladen. Es wirkt alles noch etwas provisorisch, viele Zettel sind noch von Hand geschrieben, die Auswahl ist sehr überschaubar. Doch die Produkte könnten auch in einem Trendladen wie Veganz stehen: Stylische Müslipackungen, Raw-Riegel und Chips reihen sich in den Regalen aneinander. Völlig absurd, wie viele richtig gute Sachen hier in Massen zu finden sind. Da werden einem zum ersten Mal ein klein wenig die Dimensionen bewusst, in denen Supermarktketten aussortieren. Die Obst- und Gemüseabteilung macht nur einen kleinen Teil aus.

"Teilweise sind die Produkte auch noch gar nicht abgelaufen, aber können nicht mehr vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums im Supermarkt verkauft werden", erklärt mir Store Manager Micha. Die Supermärkte würden schlichtweg zu viel einkaufen, was sie nicht immer komplett losbekämen. Manchmal passiert das auch im Zuge von Angebotsaktionen, da würde sich einfach verkalkuliert. Aber selbst nachdem das MHD überschritten ist, seien gerade abgepackte Produkte wie Chips noch gut ein halbes bis zu einem Dreivierteljahr haltbar.

Um sicherzugehen, dass alle Lebensmittel wirklich noch frisch sind, kontrollieren Micha und seine Kollegen regelmäßig dessen Qualität. Milchprodukte, Fleisch und Fisch kann der Laden deshalb auch nicht anbieten. Dort könnten sie nicht garantieren, dass die Produkte wirklich noch genießbar sind. Auch Brötchen vom Vortag können nur einen Tag lang verkauft werden. Durch sein wechselndes Sortiment ist das Geschäft nicht wirklich ein Ersatz für den normalen Supermarkt, eher Typ progressiver Tante-Emma-Laden, in dem es immer etwas zu entdecken gibt.

Gerade sind er und ein Kollege dabei, neu eingetroffene Ware einzeln mit Preisen zu versehen und in die Bäckerei-Auslage einzuräumen. Die Lebensmittel kommen von größeren Supermarktketten, wie beispielsweise Metro, die durch den Weiterverkauf Entsorgungskosten einsparen. SirPlus kauft sie für einen niedrigen Preis ab und kann sie für einen geringeren Preis als im normalen Handel anbieten.

Vielen Kunden scheint das Konzept des Ladens trotzdem noch nicht ganz klar zu sein. Immer wieder höre ich, wie jemand fragt: "Und das ist jetzt alles abgelaufen?" Auf den ersten Blick würde man es schließlich nicht vermuten. Katrin, die gerade hinter der Kasse steht, erklärt mir, dass viele Leute vorbeikämen, die mit dem Thema Lebensmittelverschwendung noch gar nichts am Hut hätten: "Von daher arbeiten wir hier auch ein bisschen Aufklärungsarbeit." Vielen Kund*innen würden auch nicht glauben wollen, dass im Lager von regulären Supermärkten noch viel mehr Paletten auf ihren Einsatz warteten. "In Deutschland wird pro Minute eine Lkw-Ladung an Lebensmitteln vernichtet, das kann man sich kaum vorstellen."

Ein Supermarkt, der die Reste von Supermärkten verkauft

Bei all der Menge an Lebensmitteln, die offensichtlich noch völlig in Ordnung sind, fragt man sich, warum die größeren Supermärkte nicht selbst ein erweitertes Regal mit ausrangierten Produkten schaffen. Gleichzeitig kenne ich die Antwort schon selbst. "Das passt nicht in das Bild, das sie verkörpern wollen und auch nicht zu dem Anspruch, den der Verbraucher an einen Supermarkt hat", erklärt Micha, der selbst lange für Edeka gearbeitet hat. Wir Konsumenten seien darauf gepolt, immer volle Regale und eine große Auswahl angeboten zu bekommen. Ein Dilemma, das nicht nur die Lebensmittelindustrie betrifft.

Micha überlegt bereits, auch ausrangierende, voll funktionsfähige Elektrogeräte zu verkaufen. Auch die müssten vor dem kapitalistischen Mahlwerk gerettet werden. Dass ein Supermarkt durch die Reste anderer Supermärkte entstehen kann, klingt bereits absurd genug. In was für einer Welt leben wir eigentlich?