Trennung, Schmerz, Streit. Oft begehen Scheidungskinder die selben Fehler wie ihre Eltern. Dieses Phänomen nennen Sozialwissenschaftler in den USA und in Deutschland "soziale Vererbung". Die Herausforderung, den Kreis zu brechen, liegt vor all denen, die sich trotz fehlenden Vertrauens und Zweifel dazu entschließen, selbst eine Familie zu gründen.

So auch im Beispiel von Frank, den ich als Coach betreue. Frank war zwei Jahre alt, als seine Eltern keine Alternative mehr zu einer Trennung sahen. Das war 1999, als bereits jede dritte Ehe in Deutschland geschieden wurde. Erinnerungen an das Leben mit Mama und Papa unter einem Dach existieren für Frank nur auf alten Fotos. Doch der Tag, an dem ihm seine Eltern ihre Trennung erklärten, ist ihm noch heute schmerzhaft präsent.

Frank ist mittlerweile 19 Jahre alt, mutig und ständig auf der Jagd nach Herausforderungen. Er träumt davon, als Fotograf oder Kameramann aus Krisengebieten zu berichten. Nur eine Sehnsucht steht im Gegensatz zu seinen unkonventionellen Zügen: Er möchte irgendwann mit Frau und zwei Kindern glücklich in einem Haus mit Garten leben.

Die Schuldfrage

Die Trennung der Eltern im Kindes- oder Jugendalter ist eine schmerzhafte Erfahrung. Fast jede zweite Ehe wurde 2015 in Deutschlands Großstädten geschieden. Zwischen 1985 und 2015 waren über 4,1 Millionen minderjährige Kinder davon betroffen. Knapp die Hälfte davon sind heute junge Erwachsene und teilweise selbst in einer festen Partnerschaft mit Kinderwunsch. Was schützt junge Erwachsene davor, die Erfahrung der Eltern nicht zu wiederholen?

Frank zum Beispiel sieht es als seine größte Herausforderung, nicht an einer Partnerschaft mit Kindern zu scheitern. Er kann nicht von sich behaupten, dass er eine unglückliche Kindheit bei seiner Mutter hatte. Im Gegenteil, er konnte sich entfalten und ist heute ein selbstbewusster Mann. Die Autorität durch den Vater fehlte ihm, aber er kann nicht bestimmen, was genau anders gewesen wäre. Mit der Erfüllung seines Ziels, eine eigenen Familie zu gründen, könnte er sich beweisen, dass er es besser machen kann. "Damit hätte ich endlich Gewissheit, dass es nicht meine Schuld war, dass sie sich getrennt haben", sagt Frank.

Kinder- und Jugendpsychologen stellen bei den meisten Trennungskindern fest, dass sie sich selbst die Schuld an der Trennung der Eltern geben. In ihrem Trauma suchen Kinder und Jugendliche nach Gründen. Sie gelangen zu dem Schluss, dass sie selbst der Trennungsgrund sind. Dazu führen sie Denkmuster, wie zum Beispiel.: "Hätte ich nur immer aufgeräumt," oder "wäre ich nicht so frech gewesen". Die Denkpsychologie nennt diese Vorgehensweise "Deduktion". Sie beruht ausschließlich auf Gefühlen und führt zu irreführenden Schlussfolgerungen.

Den Kreislauf stoppen

Aus den Sitzungen mit betroffenen Patient*innen weiß ich, dass Scheidungskinder oft die Schuld auf sich nehmen. Das kann sie ein Leben lang belasten. Viele ziehen sich in die Haltung des Opfers zurück, um sich selbst zu schützen. Das führt dazu, dass sie andere Leidträger*innen kennenlernen und sich verbünden. Kein fruchtbarer Nährboden für eine glückliche Partnerschaft. Ganz im Gegenteil.

Fähigkeiten erkennen

Trennungskinder müssen sich schon früh in ihrem Leben mit Schmerz und Abschied, aber auch mit Abhängigkeit und Gewissenskonflikten auseinandersetzen. Damit sie nicht selbst vor dem Scheidungsrichter landen, können sie ihre Erfahrungen in Fähigkeiten umwandeln.

Eine gesunde Basis dafür stellt das Loslassen der Vergangenheit dar. Loslassen gelingt dann, wenn der junge Erwachsene mit den Eltern Frieden schließt. Dies kann gelingen, wenn den Betroffenen bewusst wird, welche Stärken sie durch die Erfahrungen der Trennung entwickeln konnten. Zum Beispiel:

1. Trennungskinder verfügen meist über eine hohe soziale Kompetenz

Durch die eigene Erfahrung sind sie wachsamer im Umgang mit den Gefühlen ihrer Mitmenschen. Auch eine frühe Kinderbetreuung in Krippe oder Hort führt zu einer ausgeprägten sozialen Fähigkeit.

2. Trennungskinder sind teamfähig

Der frühe Umgang mit einer Vielzahl von Kindern in den außerschulischen Betreuungseinrichtungen, die Trennungskinder meist durch die Erwerbstätigkeit des alleinerziehenden Elternteils besuchen, gibt ihnen frühzeitig die Chance, Gruppen einzuschätzen und deren Dynamik und Wirksamkeit zu nutzen.

3. Trennungskinder verfügen über eine hohe Flexibilität

Durch Umzüge, neue Partner*innen der Eltern oder Schulwechsel sind Trennungskinder geübt, Veränderungen anzunehmen und zu nutzen. So können sie sich schneller für einen Job im Ausland o. ä. entscheiden und mehr Chancen wahrnehmen, ohne sich durch die Komfortzone aufhalten zu lassen.

4. Trennungskinder werden hervorragende Manager*innen

Diese Woche bei Mama, nächste bei Papa. Früh lernen Trennungskinder über die Terminplanung der Eltern, sich sinnvoll selbst und ihre Umwelt zu organisieren.

5. Trennungskinder haben eine hohe Toleranz

Wenn die Eltern sich im Sinne des Kindes nicht negativ übereinander auslassen, vermitteln sie dem Kind früh, dass jeder Mensch seinen eigenen Lebensraum und seine eigenen Möglichkeiten zur Entfaltung haben darf und auch braucht.

6. Trennungskinder sind belastbarer und stärker im Umgang mit Konflikten

Durch die Scheidung der Eltern sind Kinder früh mit schweren Konflikten konfrontiert, erlernen aber auch, diese zu überwinden und hinter sich zu lassen. Das stärkt sie darin, Belastungen auszuhalten und Konflikte sinnvoll und zügig zu lösen.

Dankbarkeit schafft Freiheit

Diese sechs Fähigkeiten sind nur eine Auswahl dessen, was junge Menschen an Fähigkeiten aus einem gescheiterten Elternhaus mitnehmen können. Die Trennung der Eltern kann also auch zur Stärkung der eigenen Persönlichkeit führen. Dieses gewonnene Selbstbewusstsein ermöglicht eine freie Partner*innenwahl auf Basis von Dankbarkeit, statt auf Schuld und Abhängigkeit.

Frank ist überzeugt, dass er durch seine große Sehnsucht nach einer intakten Familie, jede erdenkliche Kraft mobilisieren wird, um sich diesen Wunsch zu erfüllen. Als ich ihn frage, ob er sich durch die Trennung seiner Eltern auch gestärkt fühlt, fängt er an zu lächeln und sagt: "Ist das nicht verrückt? Genau das, was ich nicht hatte, gibt mir heute die Kraft, um es bewusst leben zu wollen."

Katrin Braunwarth ist freie Journalistin und Mental Resource Trainerin. Die private Ausbildung mit dem Titel Mental Resource Trainer*in absolvierte sie in Trochtelfingen, in der Schwäbischen Alb. Mental Resource Trainer*innen sind dazu ausgebildet, Menschen dabei zu unterstützen, ihre frühkindlich gebildeten Glaubenssätze und unterbewussten Einstellungen herauszufinden. Die Ausbildung bedient sich Elementen aus NLP und Transformationaanalyse und basiert auf tiefenpsychologischen Grundlagen.