Es gibt Paare, bei denen fliegen ständig die Fetzen. Und es gibt Paare, die scheinen sich gar nicht zu streiten. Nicht nur selten, sondern nie. Da fragt man sich: Wie zur Hölle gelingt denen diese Harmonie? Oder schluckt da eine*r immer alles runter, gibt klein bei, ist einfach zu harmoniebedürftig – läuft im Grunde also auch bei denen etwas falsch?

Nie zu streiten scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, dafür gibt es zu viele Gelegenheiten: Der gemeinsame Urlaub, zusammenzuziehen, die Wohnung zu putzen oder die Schwiegereltern zu besuchen. Helena und Johan* sind seit mehr als zehn Jahren zusammen und haben einen zweijährigen Sohn – und sie sind eines dieser seltenen Paare, die sich an keinen einzigen Streit erinnern können. Wie kann das sein?

Sie warteten auf den Knall, aber er kam nicht

"Ich streite einfach nicht gerne", sagt Helena. "In der Wut wird man so schnell unsachlich und verletzend, ohne wirklich etwas zu klären. Dann fallen Sätze, die einem später leidtun." Mit ihrem Exfreund gab es regelmäßig Zoff. Sie stritten über Kleinkram, Geld, Ansichten, mal mit Worten und knallenden Türen, mal mit stoischem Schweigen und Ignorieren. Auch das ist Streiten. Irgendwann waren die gegenseitigen Vorwürfe und Wortgefechte nicht mehr auszuhalten.

Sie verließ ihren Ex – dann traf sie Johan. Da waren beide Anfang 20 und studierten in einer Kleinstadt. "Am Anfang der Beziehung haben wir immer auf den Moment gewartet, in dem die schöne Stimmung umschlägt und es kracht", erzählen sie. Als sie nach einem Jahr immer noch keinen echten Streitgrund hatten, war es fast unheimlich.

Dann zogen sie zusammen. Jetzt würden die Probleme bestimmt anfangen, dachten sie. Aber die Harmonie blieb. Helena war immer ordentlich gewesen, Johan türmte gerne mal Klamotten- und Geschirrberge auf. Das Zusammenwohnen hätte so leicht schiefgehen können. Aber irgendwie passten sie sich unmerklich aneinander an: Helena sieht eher darüber hinweg, wenn doch mal was rumliegt, Johan bemüht sich, die Wohnung möglichst ordentlich zu halten. "Man bricht sich keinen Zacken aus der Krone, wenn man Dinge dem anderen zuliebe tut. Wenn beide mitmachen und keiner es ausnutzt, kann das funktionieren", sagen sie.

Am häufigsten streiten Paare über Haushalt und Ordnung, Geld oder Sex

Als sie nach drei Jahren zusammenwohnen immer noch keinen Streit und keine wirklichen Beziehungsprobleme hatten, hakten sie das Thema ab. Sie beschlossen, es nicht mehr merkwürdig, sondern gut zu finden, dass sie nicht stritten.

Nein, sie seien nicht immer einer Meinung und natürlich sei auch mal der*die andere müde oder genervt. Wie neulich, als tagelang Handwerker die Badfliesen in ihrer Wohnung abklopften. Das seien Momente, in denen herumliegende Klamotten schon nerven, sagt Helena. "Aber ich räume sie dann halt einfach weg." Ganz einfach.

"Wenn es in solchen Situationen zum Streit kommt, geht es selten um die herumliegenden Klamotten, sondern darum, dass beide Seiten sich nicht genügend respektiert und wertgeschätzt fühlen", erklärt die Münchner Paar- und Sexualtherapeutin Andrea Bräu. "Der eine sieht es als sein Recht an, Dinge auch mal liegenzulassen, der andere besteht darauf, eine ordentliche Wohnung zu haben."

Das führe schnell zu Streitsituationen, bei denen man am Ende nicht mehr wisse, worum es eigentlich ging, obwohl man die Situation schon eher hätte entschärfen können, so wie Helena. Haushalt und Ordnung, aber auch Geld, Sex, Eifersucht oder die Erziehung der gemeinsamen Kinder gehören laut Bräu zu den häufigsten Streitthemen bei Paaren.

Man sollte sich überlegen, wann und wie man etwas anspricht

"Ich überlege genau, was ich anspreche und ob es das Thema wirklich wert ist. Im Zweifelsfall sage ich einfach nichts", erzählt Johan. Er denkt nicht nur über das Ob, sondern auch über das Wann und Wie nach: "Wenn mich etwas stört, versuche ich es nicht direkt in der Situation zu sagen, sondern warte auf einen anderen, passenden Moment", erklärt er. Meistens sei die Sache mit etwas Abstand gar nicht mehr so wichtig. Und wenn doch, könne man die Dinge viel sachlicher ansprechen.

Paartherapeutin Andrea Bräu sieht darin einen der Tricks konfliktarmer Beziehungen: "Man muss abwägen können, über was man hinwegsehen kann und wo man für sich einstehen muss. Und es macht einen großen Unterschied, wie ich Dinge anspreche – ob ich immer gleich den Magenschwinger raushole, oder sachlich sage, was mir wichtig ist", erklärt Bräu. Den passenden Moment abzuwarten, sei dabei wichtig: "Man sollte kritische Dinge nie abends ansprechen, wenn man gestresst ist und vor allem nicht unter Alkoholeinfluss, das wirkt wie Brandbeschleuniger", rät Bräu.

Helena wartet lange, bevor sie ein kritisches Thema anspricht. Aber wenn, dann sei das Problem oft schnell vom Tisch, wie neulich: "Wir arbeiten beide in Vollzeit, aber meistens hole ich unseren Sohn von der Kita ab, weil ich flexiblere Arbeitszeiten habe. Das mache ich eine Weile mit, aber wenn es mir zu viel wird, sage ich Johan einfach, dass er jetzt auch mal dran ist. Er sieht das auch und macht's dann einfach."

Beim Streiten geht es nicht darum, recht zu haben

Oft helfe Helen und Johan der gleiche Sinn für Humor. Gemeinsam zu lachen entschärfte viele Beziehungsstreitbomben, lange bevor sie explodieren. Die Erkenntnis kam ihnen beim Thema Müll. Johan beklagte sich, dass er immer dafür zuständig sei, den Müll runterzubringen. Das stimme, sagte Helena, aber er trage den Müll immer halbleer raus, sie würde mindestens noch doppelt so viel reinstopfen, bevor die Tüte voll sei. Witzig war das, sagen sie heute und volle Mülleimer waren nie wieder Thema.

"Das ist genau der Moment, in dem viele Paare anfangen, einen Entweder-oder-Streit zu führen", erklärt Elke Wischmann, Leiterin des Beratungsteams bei Pro Familia in Hamburg. "Sie streiten darum, wer recht hat, aber oft führt das nur zu endlosen Debatten und schließlich fühlen sich beide unverstanden. Dabei geht es nicht um richtig oder falsch, sondern um ein Sowohl-als-Auch. Beim konstruktiven Streiten geht niemand als Sieger hervor, sondern beide Seiten erkennen, dass es verschiedene Ansichten gibt und jede in Ordnung ist", erklärt Wischmann. Sie ist seit 20 Jahren in der Paarberatung tätig und saß schon vielen Streitpaaren gegenüber.

"Paare wie Johan und Helena streiten weniger, weil es ihnen nicht darum geht, wer recht hat." Johan und Helena haben einfach ein unterschiedliches Gefühl für volle Mülleimer. "So zu agieren, kann man lernen", sagt Wischmann. "Der Trick ist, nicht nur den eigenen Standpunkt zu sehen, sondern offen zu sein für den anderen."

Beziehungen, die zu harmonisch sind, können auch eintönig werden

Eine streitlose Beziehung muss aber gar nicht das Ziel in einer Partnerschaft sein. Manche Paare brauchen die Reibung. "Sich zu streiten erzeugt eine Spannung", sagt Wischmann. "Mitunter kann die auch für die Erotik in der Beziehung wichtig sein. Bei Paaren, die sich nicht streiten, besteht die Gefahr, dass sie Konflikte bewusst vermeiden, etwa aus Angst vor dem Verlassenwerden. Aber wenn immer nur alles harmonisch und streitlos sein soll, läuft eine Beziehung Gefahr, irgendwann langweilig und eintönig zu werden", erklärt die Pro-Familia-Expertin. Oft seien das die Situationen, in denen einer von beiden fremdgehe: "Dann sitzen die Paare in der Beratung und verstehen überhaupt nicht, wie das passieren konnte, weil doch alles so schön war", erklärt Wischmann.

Auch Andrea Bräu beobachtet in ihrer Praxis solche sogenannten Konfliktvermeidungspaare: "Wenn Paare sagen, sie streiten nicht, dann schaue ich immer zweimal hin, denn das sind oft die, die wegen sexueller Flaute bei mir landen. Aber natürlich gibt es Paare, die besonders reif sind und einen guten Umgang mit Konflikten und gleichzeitig ein leidenschaftliches Paarleben haben."

"Ich fühle mich ihm nie überlegen und er ist unglaublich intelligent"

Johan und Helena grinsen bei dem Thema. "Ich finde sie immer noch so sexy wie damals", sagt Johan. "Und ich bewundere ihren Humor, wie cool sie im Job auftritt und wie sie mit unserem Sohn umgeht. Wenn man diese gewisse Achtung vor dem anderen hat, sieht man schneller über die Macken hinweg."

Helena sagt: "Ich fühle mich ihm nie überlegen, er ist unglaublich intelligent, hat tolle Ansichten und bringt mich auf Ideen, auf die ich ohne ich nicht gekommen wäre." Vielleicht nerve deshalb so wenig an ihm. "Und natürlich sieht er wahnsinnig gut aus!", fügt sie hinzu.

Das sei tatsächlich eines der Geheimnisse gut funktionierender Beziehungen, bestätigt Elke Wischmann: "In einer Beziehung möchte ich das Gefühl der Exklusivität haben, dass ich etwas Besonderes bin, geschätzt und gesehen werde. Wenn beide Partner es schaffen, dem anderen genau dieses Gefühl zu vermitteln, dann können Paare auch ohne große Konflikte lange zusammen glücklich sein."

*Namen von der Redaktion geändert