Von Gewusel zu Stille. Von der gesamten Familie zu allein in der Wohnung. Von Braten zu leerem Kühlschrank. Alle Jahre wieder fühle ich mich nach den Feiertagen einsam, leer, als wäre ich verlassen worden.

Während ich in den Flieger zurück nach Berlin steige, wird mir klar, dass es nun wirklich vorbei ist. Die Tage, auf die ich mich das ganze Jahr gefreut habe, sind vorüber. Wie sehr ich Weihnachten mag, hab ich schon in meiner Liebeserklärung an Weihnachten aufgeschrieben.

Nun sitze ich im Flugzeug und frage mich: Hab ich die Feiertage genug genossen? Hab ich mir für alle genug Zeit genommen? Die Antwort auf diese Fragen ist ebenfalls alle Jahre wieder: Nein. Am Ende schaffe ich doch nicht alles, was ich mir eigentlich vorgenommen hatte und zum Genießen bleibt zwischen all dem Stress auch nur selten Zeit.

Mir wird klar, ich habe Heimweh, obwohl ich noch nicht mal weg bin.

Ich schnalle mir den Gurt um und mein Magen zieht sich zusammen. Ich habe Heimweh, obwohl ich noch nicht mal weg bin. Noch steht der Flieger auf dem Rollfeld in Wien. Noch könnte ich rauslaufen, mein Gepäck allein nach Berlin fliegen lassen und mit dem Zug wieder zu meinen Eltern aufs Land fahren oder zumindest zu meinen Freund*innen nach Wien. Mein ganzer Körper wehrt sich gegen die Rückreise. Ich will zu Hause bleiben. Auf dem Land. Bei meinen Eltern.

Niemals hätte ich gedacht, dass ich einmal so denken würde. Meine gesamte Jugend rebellierte ich gegen mein Elternhaus. Ich empfand es als wahnsinnig spießig, dass jeden Tag um Punkt 12 Uhr Mittag gegessen wurde, dass ich ständig und überall das Licht ausschalten musste, dass das Wlan in der Nacht abgeschaltet wurde, alle ständig mit dem warmen Wasser sparsam umgehen mussten und dass es andauernd Fleisch zu essen gab. Außerdem fand ich das Landleben, die Natur und die Bauernhöfe rund um mein Elternhaus total öde. Selbst mit vier Rädern kam man an keinen spannenderen Ort, sondern nur in ein anderes, etwas größeres Provinznest.

Nun wünsche ich mich genau dorthin zurück: Zurück in die Idylle am Land. Zurück dorthin, wo nichts passiert und nichts los ist, wo alles so warm, so herzlich, so zu Hause ist. Zu Weihnachten versammelt sich meine gesamte Familie. Wir rutschen direkt in die gewohnten Rollen als Kinder und Eltern zurück. Obwohl meine Geschwister und ich längst erwachsen sind, schlafen wir in unseren ehemaligen Kinderzimmern und müssen uns um nichts kümmern. All die nervigen Dinge des Erwachsenseins wie Einkaufen, Kochen und Wäschewaschen übernehmen meine Eltern.

Für mich fühlt sich Weihnachten an wie ein intensiver Rausch. Danach kommt der Kater und das Heimweh.

Für mich fühlt sich Weihnachten wie ein intensiver Rausch an. Ich bin glücklich, erfüllt und verbrauche alle Glückshormone. Danach kommt der Kater und das Heimweh. Obwohl ich natürlich weiß, dass es Gründe gab, aus denen ich weggezogen bin und dass ich total genervt wäre, wenn ich tatsächlich wieder auf dem Land bei meinen Eltern wohnen würde. Aber all die rationalen Gedanken sind viel zu schwach, um sich gegen die Wellen des Heimwehs durchzusetzen.

Ich war schon immer ein Gewohnheitsmensch, habe Veränderungen schon immer gehasst und meine Familie oft vermisst. Als kleines Mädchen gab mir mein Vater einmal vor einer Geschäftsreise ein Passbild von sich, damit ich ihn nicht so vermisse. Jeden Abend weinte und schluchzte ich laut über dem Bild und jammerte vor mich hin. Als mein Vater zurückkam, begrüßte ihn meine Mutter mit den Worten, dass er mir nie wieder ein Bild schenken dürfe, wenn er verreise, sie halte mein Gejammer nicht aus. Noch heute erzählen meine Eltern diese Anekdote gern.

Wieder in Berlin angekommen google ich, was gegen mein Heimweh helfen könnte. Heimweh vergehe mit der Zeit und zwar recht schnell, lese ich. Das würden zumindest die Ergebnisse einer Langzeitstudie mit Auslandsstudierenden zeigen. Heimweh könne aber auch zu gesundheitlichen und kognitiven Beeinträchtigungen, Lernschwierigkeiten, Zurückgezogenheit und psychischen Problemen führen. Besonders anfällig seien, so die Studie, Menschen mit einem Hang zur Neurotik und Personen, die besonders umgänglich erscheinen, da sie bemüht sind, es allen Personen in ihrem Umfeld recht zu machen. "Das erscheint zunächst vielleicht widersinnig", erklärt einer der Studienautor*innen, Professor Stefan Stieger vom Department für Psychologie und Psychodynamik der KL Krems dazu. "Doch dieser Zusammenhang lässt sich vielleicht damit erklären, dass solchermaßen veranlagte Personen darunter leiden, dass sie den Wünschen und Bedürfnissen von Freunden und Familie zu Hause nicht mehr in ausreichendem Maße gerecht werden können." Ich fühle mich ertappt.

Was hilft gegen die Leere?

Ich google weiter und finde unzählige Tipps gegen Heimweh: Neue Routinen schaffen, sich kleine Geschenke schicken lassen, versuchen, kein schlechtes Gewissen zu haben, weniger Skypen und an gewohnten Hobbys festhalten. Ich koche mir Tee, den mir meine Mutter mitgegeben hat, und räume meine Wohnung auf. Stelle die Möbel um und hänge neue Fotos an die Wand – auch von Weihnachten und von der Familie. Dann lege ich mich auf mein Bett und höre der Stille zu. Seit Tagen war es nicht leise um mich. Ich hatte keine Sekunde Ruhe.

Obwohl mir die Gedanken an Stille und Einsamkeit auf dem Weg nach Berlin noch Angst gemacht haben, ist es nun eigentlich ganz okay. Ich höre die Stimme einer Freundin in meinem Kopf, die mir jedes Mal, wenn ich ihr von meinem Heimweh erzähle, sagt, das sei mein Leben, ich müsse es akzeptieren und endlich erwachsen werden.

Ich bezweifele, dass diese Wachstumsschmerzen, dieser Wunsch, nahe bei meiner Familie zu sein, der Wunsch, zu Hause zu sein, jemals verschwinden wird. Vielleicht muss es das auch gar nicht. Vielleicht darf ich auch als erwachsene Frau nach so viel Nähe zu meiner Familie einfach mal Heimweh haben. Das ist zwar wahnsinnig uncool, aber was soll's?

An diesem Abend gehe ich ganz lang duschen, verschwende viel warmes Wasser, mache das Licht überall in meiner Wohnung an und esse erst um 23 Uhr zu Abend. Erwachsensein muss schließlich auch irgendwelche Vorteile haben.

Anmerkung der Redaktion: Da unsere Autorin derzeit in den Weihnachtsferien ist, erzählt sie von ihren Erfahrungen im vergangenen Jahr