Ich fühl' mich hässlich.

Ich kann nicht zählen, wie oft ich diesen Satz in meinem Leben schon gehört habe, von anderen und auch von mir selbst. Vor dem Spiegel, in der Umkleidekabine, zu Hause; ich habe festgestellt, wie hart ich zu mir bin, wenn es darum geht, mich selbst zu beurteilen.

Stehe ich vor dem Spiegel, sehe ich überwiegend Dinge, die mir nicht an mir gefallen: Augenringe, Nase, Körperform, zu dünne Arme, zu viel Bauch. Wenn mir jemand sagt, dass das Blödsinn ist, ist das womöglich wirklich aufrichtig gemeint – aber es fällt mir schwer, das anzunehmen. So rational ich auch sein möchte, wer auch immer mir widerspricht und so gerne ich selbst mich in anderem Licht sehen würde: Ich finde mich oft einfach nicht schön.

In meinem Umfeld wurde mir diese Tendenz von nahezu allen Befragten bestätigt. Schon beeindruckend, wie schlecht man sich selbst machen kann, entgegen aller Vernunft. Warum ist dieses Gefühl so stark – und wie kann man es beeinflussen?

Die Mär von der Schönheit

Wer dem Gedanken, nicht schön zu sein, entgegenwirken möchte, muss zunächst einen entscheidenden Denkfehler ablegen: Die eine Schönheit gibt es nicht. Ein Schönheitsempfinden ist, laut Wissenschaft, ein sehr subjektiver Reflex. Er ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich.

Unsere Art, Schönheit zu beurteilen, ist merkwürdig zwiespältig: Allzu oft empfinden wir den Reflex, etwas schön zu finden, weil wir glauben, wir müssten es schön finden – um dann zu bemerken, dass es unserem Geschmack eigentlich doch nicht entspricht. Umgekehrt gibt es diese seltenen Momente, in denen wir für uns bemerken, dass wir Dinge schön finden, die sich ganz und gar nicht mit dem common sense zu decken scheinen. Das sind womöglich diese Momente, in denen unsere ganz eigene Vorstellung von Schönheit durchschimmert.

"Das Wohlgefallen am Schönen muss von der Reflexion über den Gegenstand abhängen; und unterscheidet sich dadurch auch vom Angenehmen, welches ganz auf der Empfindung beruht", schrieb Immanuel Kant 1790 in seiner Kritik der Urteilskraft. Im vergangenen Jahr haben Psycholog*innen der New York University diese These in der Studie Beauty requires thought bestätigt: Es gibt keine Schönheit ohne Denken. Erst wenn wir reflektieren, mit eigenen Erfahrungen abgleichen, empfinden wir etwas als schön oder nicht schön. Und diese Reflexion ist von außen beeinflussbar. Werbung etwa lenkt unsere Aufmerksamkeit stark.

Ein Beispiel: Häufig wird auf die Theorie verwiesen, symmetrische Gesichter würden uns anziehen und dass wir sie als besonders attraktiv empfänden. Wer das einem Realitätscheck unterzieht, wird bemerken, dass nur die allerwenigsten Menschen wirklich symmetrische Gesichter – und Körper – haben. Und selbst wenn, könnten wir das nur schwer benennen, weil für uns Menschen viel mehr Faktoren zu einem Attraktivitätsempfinden gehören. Symmetrie kann ein Kriterium für Schönheitsempfinden sein, wie die Kulturwissenschaftlerin Diana Weis sagt. Aber es ist eben nicht das eine Kriterium.

Wer sagt, "jeder Mensch ist schön", spricht tatsächlich eine ganz simple Wahrheit aus. Schönheit ist keine messbare Einheit. Nur weil Medien und Werbeindustrie ein bestimmtes Schönheitsbild immer und immer wieder reproduzieren, heißt das noch lange nicht, dass es ein reales Raster gäbe, durch das wir fallen könnten.

Um an unserem Selbstbild zu arbeiten, müssen wir akzeptieren, dass viele Vorstellungen von Schönheit fremdgesteuert sind – darunter sogar die über unsere eigene. Wir reden uns ein, wir haben so oder so auszusehen, um schön zu sein, angetrieben durch eine ganze Industrie. Und wenn die Realität nicht mit diesem erwünschten Bild übereinstimmt, reden wir uns in der Folge ein, wir seien nicht schön.

Das ist nicht alles. Wir setzen damit psychologische Muster im Kopf in Gang, die sehr schädlich für uns sein können.

Unsere Angst vor Fehlbarkeit schafft eine dunkle Denkspirale

Unsere Schönheit – oder das, was wir so nennen – hat einen hohen Stellenwert für uns Menschen, schreibt der Kulturwissenschaftler und Autor Gleb Tsipursky in einem Beitrag für Psychology Today. Er gründete eine NGO, mit der er erforscht, wie wir uns wohler fühlen können.

In der Regel beurteile man sich selbst nach völlig anderen Maßstäben, als mit denen, nach denen man andere beurteilt, so Tsipursky. Der Grund sei simpel: Unser Aussehen beeinflusse unser eigenes Leben, das Aussehen anderer Menschen hingegen nicht. Wir haben gelernt, dass es uns Vorteile in unserer Außenwahrnehmung bringt und sogar im Beruf nützlich ist, als schön zu gelten, schreibt Tsipursky. Sehe ich gut aus, habe ich bessere Karten, so die weit verbreitete Annahme.

Bei uns selbst richten wir unseren Fokus nicht auf das, was an uns potenziell als schön gelten könnte; sondern vielmehr auf vermeintliche Makel. Denn die könnten uns ja eine negative Außenwahrnehmung bescheren, unser Leben schlecht beeinflussen. Psycholog*innen sprechen hier von einer sogenannten Verlustaversion.

Einfach gesagt: Dass wir eine schöne Augenfarbe haben, sehen wir nicht, weil wir zu sehr damit beschäftigt sind, unsere Augenringe zu verurteilen.

Wir selbst werden vor dem Spiegel zu unserem schlimmsten Feind.

Wir verlieren so langsam den Blick für das Gesamtbild, nach dem wir beispielsweise andere Menschen beurteilen. Bei uns selbst lenken wir unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf das eine Speckröllchen, den einen Dehnungsstreifen. Man spricht vom sogenannten Attentional Bias. Wir seien dabei ungleich penibler und brutaler als bei der Beurteilung anderer Menschen, schreibt Tsipursky. Das kommt daher, dass wir selbst uns am längsten kennen.

Wir selbst werden vor dem Spiegel zu unserem schlimmsten Feind. Und diese Destruktivität nagt konstant an unserem Selbstbild. Sie schafft einen starken Nährboden für Depressionen aller Art. Bekommen wir sie nicht in den Griff, könnte uns diese Aufmerksamkeitsverschiebung so sehr beeinflussen, dass wir irgendwann gar nicht mehr in der Lage sind, irgendetwas an uns schön zu finden und uns selbst ablehnen. Dieses Phänomen nennt sich Dysmorphophobie: die panische Angst davor, als hässlich zu gelten und negative Reaktionen auf das eigene Äußere zu erleben.

Wie wir uns balancierter wahrnehmen

Andere Menschen sind paradoxerweise in der Lage, uns viel ausgewogener zu beurteilen – sie können sich nämlich zu gleichen Teilen auf positive und negative Merkmale fokussieren. Genau diese Balance ist es, die es laut Tsipursky braucht, um unser eigenes Schönheitsempfinden neu zu definieren.

Sein Lösungsvorschlag: Wann immer wir wieder vor dem Spiegel stehen und uns an einem Makel reiben, könnten wir uns dazu zwingen, direkt danach den Fokus auf etwas zu legen, das wir schön an uns finden – und dieser Sache genauso viel Zeit und Energie zukommen lassen, mit der wir sonst vermeintliche Makel beurteilen.

In der Praxis könnte das so aussehen: Wir hadern vor dem Spiegel mit dem einen Leberfleck, der uns nicht gefällt? Gut, direkt danach beschäftigen wir uns aber auch genauso intensiv mit unserem Schlüsselbein, das uns gefällt. Wenn ich mir sage, ich habe viel zu dünne Arme, dann sage ich mir direkt danach, ich habe aber sehr schöne Beine.
Tsipursky formuliert Fragen, die wir uns dazu stellen könnten:

  • Wie würde es unser Selbstbild beeinflussen, wenn nur die Werbung ohne die Verlustaversion Auswirkungen auf uns hätte? Oder umgekehrt?
  • Wie können wir uns daran erinnern, unsere Aufmerksamkeit zu balancieren, wenn wir in den Spiegel schauen?
  • Zu welchen anderen Denkfehlern könnte uns unsere Verlustaversion führen?
  • Wie sonst könnten wir eine ausgeglichenere Perspektive auf uns selbst erreichen?
  • Kennen wir jemanden, der*die von diesen Ideen profitieren könnte?

"Eine ausgeglichene Aufmerksamkeit wird unserer natürlichen Verlustaversion entgegenwirken und uns selbst so sehen lassen, wie andere es bereits tun", schreibt Tsiporsky. Laut dem Forscher sollten wir das üben – und uns zudem erlauben, die Perspektive von Freund*innen und Bekannten als gültig anzunehmen, weil sie sehr wahrscheinlich ausgeglichener ist als unsere eigene.

Auch wenn dieser Prozess viel Zeit in Anspruch nimmt, es könnte uns so vielleicht gelingen, irgendwann aufrichtig über uns selbst zu sagen: Ich fühle mich gerade schön.