In der fünften und sechsten Klasse wurde Vanessa von ihren Mitschüler*innen gemobbt. Jedes Mal, wenn sie im Unterricht von den Lehrer*innen aufgefordert wurde, etwas zu sagen, hielten sich die anderen Kinder ihre Münder und Nasen zu. Sie meinten, Vanessa sei giftig. Um sich vor den Anfeindungen zu schützen, entwickelte sie eine Strategie: Sie hörte auf zu sprechen. Viele Jahre ging das so. Ihre Gedanken schrieb sie stattdessen in ihr Tagebuch.

"Weil ich mich nicht traute, zu sprechen, habe ich andere Möglichkeiten gesucht, um mich auszudrücken. Eine davon war das Schreiben", erklärt Vanessa Beyer. Durch das Schreiben habe sie über die Jahre zu mehr Selbstbewusstsein, Vertrauen und Lebensfreude gefunden.

Journaling ist das Tagebuchschreiben für Erwachsene

Das Tagebuchschreiben, wie Vanessa es als Schülerin für sich entdeckt hat, ist für viele eine längst vergessene Leidenschaft aus ihrer Kindheit oder Jugend. Damals, als man noch Sticker sammelte und Poesiealben austauschte, hielt man nach Schulschluss die Erfahrungen des Tages in einem Notizbuch fest. Heimlich natürlich: Das kleine goldene Schloss am Einband schützte die persönlichen Worte vor fremden Blicken. Während sich heute nur wenige Erwachsene outen würden, ein solches Tagebuch zu führen, liegt Journaling auch bei Volljährigen im Trend.

Im Englischen wird klar differenziert zwischen diary und journal. Ein diary ist auf Erlebnisse fokussiert, es geht um das, was passiert ist. Das journal soll zusätzlich die innere Welt beleuchten. "Journaling ist eine Bestandsaufnahme der äußeren Geschehnisse inklusive aller Gedanken und Gefühle", sagt Sven Reichmann. Der Psychologe leitet in Hamburg eine Praxis für sinnzentrierte Psychotherapie. In seinen Beratungen zeigt er seinen Klient*innen unter anderem Wege auf, ihre gegenwärtige Lebenssituation selbst in schwierigen Zeiten zu akzeptieren und sich für Veränderungen zu öffnen. Neben der Gesprächstherapie könne Journaling als Selbsthilfetool dazu einen wichtigen Beitrag leisten.

Journaling kann dabei helfen, mit Zukunftsängsten umzugehen

"Journaling ist zunächst einmal eine bewusste Vergegenwärtigung dessen, was gerade ist", erklärt Reichmann. Er vergleicht das Journaling mit einer Standortbestimmung: "Dadurch, dass ich meine aktuellen Gedanken und Gefühle benenne – in diesem Fall schriftlich –, verorte ich mich in der Gegenwart." Das habe einen großen Vorteil: "Schreiben gibt mir die Chance, zu erkennen, wie mich Ängste beispielsweise in destruktive Zukunftsszenarien katapultieren, obwohl ich mich ja noch gar nicht in der Zukunft befinde und nicht wissen kann, was sein wird." Durch das Journaling kehre man immer wieder ins Hier und Jetzt zurück. Das könne besonders in Zeiten zunehmender Unsicherheit Halt geben.

Wir werden zum Beobachter unserer Gedanken und Gefühle und können sie folglich verändern.
Sven Reichmann

Ein weiterer positiver Effekt, den Reichmann dem Journaling zuschreibt: Gedanken und Gefühle würden durch das Verschriftlichen überhaupt erst sichtbar und somit greifbar. Der Akt des Schreibens nehme Gedanken und Gefühlen ihre Macht. Konflikte, ein schmerzhaftes Erlebnis oder Zukunftsängste, wie sie viele angesichts der Corona-Pandemie plagten, wirkten einmal zu Papier gebracht meist gar nicht mehr so bedrohlich. "Wir werden zum Beobachter unserer Gedanken und Gefühle und können sie folglich verändern", ergänzt Reichmann. Journaling könne somit einen kreativen Ansatz darstellen, um sich von negativen Sichtweisen zu lösen und eine positivere Lebenseinstellung zu entwickeln.

In den USA ist Journaling bereits seit den Achtzigerjahren fester Bestandteil psychotherapeutischer Behandlungen. Einer der Vorreiter*innen auf diesem Gebiet ist der Psychologe James W. Pennebaker von der Universität Texas. Seine Forschungen zur Schreibtherapie weisen unter anderem darauf hin, dass Menschen, die regelmäßig schreiben, weniger häufig unter Ängsten oder Depression leiden und seltener krank werden könnten. In einer nicht repräsentativen Studie sollten die 46 teilnehmenden Studierenden an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen 15 Minuten lang über ein persönliches, traumatisches Lebensereignis schreiben. In den sechs Monaten nach dem Experiment besuchten die Teilnehmer*innen nur halb so oft das Gesundheitszentrum des Campus wie die Personen aus der Kontrollgruppe. Pennebaker schlussfolgerte daraus, dass Journaling einen positiven Effekt auf die Psyche und körperliche Gesundheit haben könne.

Morgenseiten, Impulsfragen, Briefe: Journaling-Methoden

Eine berühmte Journalmethode sind die sogenannten Morgenseiten, welche die US-amerikanische Autorin Julia Cameron geprägt hat. In ihrem Bestseller The Artist’s Way fordert sie dazu auf, jeden Tag nach dem Aufstehen intuitiv und ungefiltert drei Seiten zu Papier zu bringen. Das Geschriebene muss keine Bedeutung haben. Ziel soll sein, die eigene Kreativität freizusetzen.

Vanessa Beyer, das Mädchen, das über Mobbingerfahrungen zum Tagebuchschreiben fand, hat mittlerweile ihr Studium beendet und sich als Texterin selbstständig gemacht. In Schreibkursen bringt sie anderen das Thema Journaling näher. Dafür arbeitet sie häufig mit Impulsfragen: Wofür bin ich dankbar? Worauf bin ich stolz? Was kann ich aus einer Herausforderung lernen? Fragen wie diese seien Türöffner zur inneren Welt und würden gleichzeitig die Chance bergen, den Fokus auf das Positive zu lenken. "Wir können damit unsere Gedanken, Gefühle und Geschichten in eine bestimmte Richtung lenken", sagt sie. "In eine Richtung, in die wir auch unser Leben lenken möchten."

Journaling kann vor allem denjenigen helfen, die sich den äußeren wie inneren Gegebenheiten weniger bewusst sind.
Sven Reichmann

"Besonders hilfreich sind aus meiner therapeutischen Erfahrung fiktive Briefwechsel von oder mit inneren Persönlichkeitsanteilen", sagt der Psychotherapeut Sven Reichmann. Wer sich mit schmerzhaften Lebensereignissen befasst, könne sich beispielsweise seinem "verletzten inneren Kind" widmen. "Hier ist es therapeutisch eine bewährte Methode, dieses innere Kind, das zu einem Zeitpunkt in der Vergangenheit verletzt wurde, einen Brief über seine Gedanken und Gefühle schreiben zu lassen", erklärt Reichmann. Diese Art der schriftlichen Reflexion sei sinnvoll, um sich tiefer innerer Konflikte bewusst zu werden und diese aufarbeiten zu können. Ebenso hilfreich – und befreiend – könne es sein, seine Angst oder Wut zu Wort kommen zu lassen, entweder ganz allgemein oder auch an eine konkrete Person oder Situation adressiert.

Wann Journaling keine gute Idee ist

"Journaling kann vor allem denjenigen helfen, die sich den äußeren wie inneren Gegebenheiten weniger bewusst sind", sagt Reichmann. Es gebe jedoch auch Menschen, die sich ihrer Gedanken und Gefühle zu bewusst sind. Kreise jemand ständig um dieselben Themen, könne das Niederschreiben kontraproduktiv sein. In diesem Fall wäre es sinnvoller, sich zunächst mit therapeutischer Unterstützung von den wiederholenden Gedankenmustern abzuwenden.

Auch Vanessa Beyer hat schon Phasen erlebt, in denen das Schreiben ihr mehr schadete als nützte. "Bei manchen Themen bin ich in meinen Gedanken und Gefühlen so festgefahren, dass ich mir immer wieder die gleichen Geschichten erzähle", verrät sie. "Dann hilft es mir zum Beispiel eher, wenn ich mit anderen Menschen darüber rede, um deren Perspektiven zu erfahren."

Tagebuchschreiben solle vor allem eine positive Unterstützung sein und Spaß machen. "Journaling eignet sich für alle, die Freude daran haben, über das Schreiben die eigene innere Welt zu entdecken, mit Gedanken, Worten und Möglichkeiten zu spielen und sowohl den Stift als auch das eigene Leben in die Hand zu nehmen", sagt sie.

Für einen gelungenen Einstieg ins Journaling rät die Schreibtrainerin, mit Neugier an die Sache heranzugehen. Einer der größten Stolpersteine sei die eigene Erwartungshaltung. "Wer sagt denn, dass du jeden Tag zwangsläufig morgens oder unbedingt drei Seiten in dein Journal schreiben musst?", sagt sie. Ihr selbst helfe es, Notizbuch und Stift jederzeit parat zu haben, um gar nicht groß nachzudenken zu müssen. Das Schöne am Journaling ist: Es gibt keine Regeln.