Jacqui Kenny hat viel gesehen von der Welt, die Mongolei, Peru und Mexiko. Und das alles von ihrem Laptop aus. Die Neuseeländerin leidet an einer Phobie, die ihr das Reisen schwer macht. Doch sie fand ihren eigenen Weg, die Welt trotzdem zu entdecken.

Die Angst vor der Angst

Ihre erste Panikattacke hatte die heute 43-Jährige mit Anfang 20. Sie saß in einem kleinen Flugzeug auf dem Weg von Neuseeland nach Tonga, einem Inselstaat im Südpazifik. Sie hatte eine harte Woche mit unzähligen Überstunden hinter sich und wollte sich bei einem Freund entspannen. "Ich habe gespürt, wie die Panikattacke kam." Ihr Herz begann zu rasen, das Atmen fiel ihr schwer. "Und ich wollte nur noch aus diesem Flugzeug raus. Gleichzeitig hatte ich Angst davor, mich vor den anderen Passagieren zu blamieren, wenn ich versuchen würde, die Türen zu öffnen." Sie tat es nicht. Sie blieb auf ihrem Platz, quälte sich durch die Angst und setzte all ihre Willenskraft ein, um nicht aufzustehen und gegen die Türen zu donnern.

Nach der Landung versuchte Kenny zu vergessen, was passiert war. Doch die Panik kam wieder, auch im Alltag. Vor acht Jahren erst bekam sie die Diagnose: Agoraphobie. Betroffene fürchten sich vor Menschenansammlungen, öffentlichen Plätzen, vollen Supermärkten, Kinos oder geschlossenen Räumen. Also überall, wo sich viele, fremde Menschen aufhalten und die Betroffenen nur schwer flüchten können. Deswegen lösen besonders Flüge, Zug- und Autofahrten neue Panikattacken aus.

Am Ende habe ich Angst davor, die Kontrolle zu verlieren.
Jacqui Kenny

Damit meint sie die Kontrolle über sich selbst. Sie fürchtet, so sehr in Panik zu verfallen, dass sie sich unangemessen verhalten könnte.

Für manche wird die Angst so unerträglich, dass die Betroffenen sich nicht mehr aus dem Haus trauen. Auch Kenny ging es vor zwei Jahren so.

Die Welt durch Street View

"Ich musste ein Geschäft schließen, das ich über ein Jahrzehnt geleitet hatte. Ich verlor das Selbstvertrauen in mich." Die Agoraphobie wurde schlimmer. Manchmal schaffte sie es kaum, sich zehn Meter von ihrer Wohnung zu entfernen. Gefangen in ihrem Zuhause begann sie, sich eine Verbindung nach draußen zu suchen. "Ich war nicht bereit, der Welt zu begegnen, aber ich wusste, dass ich ein kreatives Ventil brauchte, um die negativen Gedanken fernzuhalten." Sie begann online zu reisen.

Sie scrollte durch Google Street View und beamte sich so an Orte, die sie gerade nicht erreichen konnte. "Am Anfang war es ein wahlloser Prozess. Aber ich hab schnell gemerkt, dass ich Orte liebe, die ganz nah oder ganz fern vom Äquator sind. Dort liegt das Licht entweder ganz tief oder sehr hoch." Irgendwann entdeckte sie "versteckte magische" Szenen und Motive, die vom Google-Wagen festgehalten wurden: spielende Kinder, laufende Kamele oder verlassene, abgelegene Häuser.

"Ich war fasziniert von diesem komischen und weiten Paralleluniversum. Ich habe weit entfernte Städte, staubige Landschaften, lebhafte architektonische Perlen und fremde Menschen gesehen – alles eingefroren in der Zeit."

Anfang 2016 fing sie an, die Bilder auf Instagram zu stellen. Bis Kenny ein spannendes Motiv gefunden hat, dauert es Tage, manchmal Wochen: "Du musst einfach dabei bleiben und ein bisschen obsessiv sein. Natürlich ist es ein schmerzhafter Prozess – Google Street View hat Milliarden Bilder aufgenommen – aber es fühlt sich so unglaublich gut an, wenn du eins gefunden hast."

Es gibt einige Bilder, die Kenny wirklich liebt. Eins davon ist das Bild zweier Frauen vor einer Moschee im Senegal. "Ich habe so lange um die Stadt St. Louis herum gesucht und hätte fast aufgegeben. Und dann sah ich diese Szene. Ich liebe die Farben der Kleidung und der Moschee. Es sieht fast wie ein Filmset aus."

"Ich mag auch die Mutter und ihre Tochter in Baganuur in der Mongolei, die händehaltend im Staub des Google-Autos laufen, während die Sonne untergeht."

Mit Achtsamkeit gegen die Angst

Jacqui Kenny war jahrelang in Therapie, bis sie die Stunden nicht mehr bezahlen konnte. Mithilfe von Achtsamkeit hat sie ihre Angst derzeit im Griff, sagt sie.

Vor Kurzem reiste sie von London, wo sie derzeit lebt, nach New York. Sie hatte ihre Bilder Google angeboten und das Unternehmen finanzierte tatsächlich eine Ausstellung. "Das war so unglaublich anstrengend, aber ich bin so glücklich, dass ich es gemacht habe. Ich werde meine Ängste weiter herausfordern, egal wie unangenehm sie mich fühlen lassen."

Du leidest auch unter einer Angststörung oder einer anderen psychischen Erkrankung? Was hilft dir, damit besser klarzukommen? Ich will Geschichten erzählen, die Mut machen. Erzähl mir deine! Schreib mir: js@ze.tt.

HILFE HOLEN

Bist du auch geplagt von Ängsten? Bei der Telefonseelsorge findest du online oder telefonisch unter den kostenlosen Hotlines 0800-1110111 und 0800-1110222 rund um die Uhr Hilfe. Du kannst dich dort anonym und vertraulich beraten lassen, welche Form der Therapie dir helfen könnte.