Luftschlangen und bunte Pappteller auf dem Tisch, in der Mitte ein großer Kuchen mit Kerzen. So hatte sich Lana Rebhan ihren Geburtstag vorgestellt. Es kam alles anders. Ihre Benjamin-Blümchen-Torte bekam sie auf der Intensivstation. Im Nebenraum musste ihr Vater künstlich ernährt werden, wenige Stunden zuvor hatte man ihm eine Niere entnommen.

Noch gut erinnert sich Lana an Tage wie diese. Doch sie sind keine Ausnahme in Lanas Leben. Seit ihrem achten Lebensjahr muss sie sich um ihren chronisch kranken Vater kümmern. Sie ist eines von knapp 480.000 Kindern und Jugendlichen, die in Deutschland Angehörige pflegen. Das geht aus einer Studie für das Bundesgesundheitsministerium vom Juli 2018 hervor. Young Carer nennt man sie in vielen Ländern – hierzulande gibt es keinen Begriff, der sie beschreibt. In keinem Gesetz werden Jugendliche wie Lana genannt, in keiner Debatte befragt, sie bleiben unsichtbar.

Während andere Kinder spielen, kümmert sich Lana um ihren Vater

Als Lana eingeschult wurde, schien ihre Kindheit normal zu verlaufen. Erst im Laufe ihres achten Lebensjahres verschlimmerte sich die Erbkrankheit ihres Vaters massiv. Er leidet an einer unheilbaren Nierenerkrankung, Ärzt*innen sprechen von chronischen Zystennieren. Seine Nieren quellen schwammartig auf. Eine gesunde Niere hat ein Gewicht von 200 Gramm. Die von Lanas Vater wiegt das Zwanzigfache. Die Aussichten stehen schlecht: 2012 sagten ihm die Ärzt*innen, dass er nur noch wenige Jahre leben würde. "Ich habe mich schon drei Mal von ihm verabschiedet", sagt Lana. "An meinem 18. Geburtstag werde ich ohne ihn sein."

Wie viele Kinder kranker Eltern leidet die heute 14-Jährige mit. Doch Lana leidet nicht nur. Sie pflegt, sie putzt, sie packt ihrem Vater die Krankenhaustasche. Morgens muss er zur Dialyse, ihre Mutter zur Arbeit. Kommt Lana von der Schule, sortiert sie die Wäsche, wirft den Staubsauger an und kocht das Mittagessen. Ihr Vater kann sie nur an seinen guten Tagen unterstützen. Die sind selten. Ihre Mutter kommt erst spät nach Hause. Trotz Vollzeitjob muss sie noch nebenher arbeiten, um die Familie ernähren zu können. Während andere Kinder zusammen Serien schauen, Volleyball spielen oder Hausaufgaben machen, muss Lana auf ihren Vater achten. "Notfälle können nicht warten, bis Mama zu Hause ist", sagt Lana. "Ab acht Uhr abends habe ich dann Zeit für mich", sagt sie.

Pflegende Kinder sind häufig emotional, sozial und auch physisch belastet.
Sabine Metzing, Pflegeforscherin der Universität Witten/Herdecke

Von Young Carern wird gesprochen, wenn Kinder und Jugendliche zu Hause regelmäßig Aufgaben übernehmen, die nicht altersgerecht sind. Sie teilen Medikamente ein, setzen Spritzen oder duschen ihre Eltern. Selbst die Spülmaschine kann zu einer solchen Aufgabe werden, wenn niemand anderes sie ausräumen würde. Bis zu ihrem zwölften Lebensjahr haben Kinder wie Lana Anspruch auf eine Haushaltshilfe – vier Wochen lang und nur dann, wenn ein Elternteil im Krankenhaus ist. Darüber hinaus gibt es keine Hilfe, weder von den Krankenkassen, noch von der Politik. "In meinem Alltag bekomme ich keine Unterstützung von außen", sagt Lana.

"Die Folgen können gravierend sein", sagt Sabine Metzing, Pflegeforscherin der Universität Witten/Herdecke. Als erste Wissenschaftlerin hat sie die Lebenssituation junger Pflegender in Deutschland untersucht. "Ein ganz großes Problem ist die soziale Isolation", sagt Metzing. Viele junge Pflegende verlieren Freundschaften, vergessen ihr Privatleben und werden in der Schulklasse ausgegrenzt. "Das kann sich auf die gesamte Entwicklung auswirken. Pflegende Kinder sind häufig emotional, sozial und auch physisch belastet", sagt Metzing. In vielen Fällen leidet die Schulbildung unter dem ständigen Stress. Lana kennt das Gefühl, mit niemandem reden zu können. Verabredeten sich ihre Klassenkamerad*innen, musste Lana meistens absagen. So oft, bis sie niemand mehr einladen wollte. Standen Prüfungen an, fand sie häufig keine Zeit zum Lernen. Die achte Klasse musste sie wiederholen.

Wie sich Lana entschied, ihre Situation öffentlich zu machen

Die wenigsten Familien sprechen offen über ihre Situation. Zu groß ist die Scham. Zu groß ist die Angst vor dem Jugendamt. "Je stärker Kinder in die Pflege eingebunden sind, desto unsichtbarer werden sie für uns", sagt Metzing. Dieses Tabu will Lana brechen. In ihren einsamen Stunden hat sie Rat im Internet gesucht – und kaum etwas gefunden. Nur auf englischen Webseiten ist sie auf Jugendliche mit ähnlichen Problemen gestoßen. In Großbritannien ist das Bewusstsein für junge Pflegende ein anderes. "Young Carer spielen dort schon lange eine Rolle", sagt Lana. Es gibt sogar einen Jahrestag, der auf sie aufmerksam machen soll: der letzte Donnerstag im Januar. "Wieso haben wir so etwas in Deutschland nicht?", fragt Lana. Sie beschloss zu handeln.

Auf ihrer Homepage machte sie ihre Geschichte öffentlich. Dazu erstellte sie eine Liste mit regionalen Anlaufstellen und veröffentlichte Tipps und Tricks für pflegende Jugendliche. In nur wenigen Monaten meldeten sich unzählige andere pflegende Jugendliche bei ihr. Viele wollten Rat, andere waren nur auf der Suche nach einem offenen Ohr. Um etwas zu bewegen, schickte Lana die vielen Erfahrungsberichte an Politiker*innen. Gregor Gysi, Ursula von der Leyen und Katarina Barley unterstützen seitdem ihre Kampagne. Auch das Familienministerium hat Lana zu einer Fachtagung eingeladen – die Politik will handeln.

Hilfetelefon für pflegende Jugendliche

"Seit dem letzten Jahr bietet das Ministerium eine Telefonhotline für junge Pflegende an – die sogenannte Pausentaste", sagt Metzing. Montags bis samstags können pflegende Jugendliche die kostenlose Nummer gegen Kummer erreichen und sich beraten lassen. Das kann nur ein erster Schritt sein. Noch immer gibt "es keine flächendeckende staatliche Unterstützung. Es gibt keine regelhafte Leistung für junge Pflegende und ihre Familien", sagt Metzing.

Wenn Lana über ihre lange Liste an Vorschlägen spricht, wirkt sie wie eine junge Politikerin. Dann spricht sie von einer Gesetzesänderung für mehr Haushaltshilfen, von Gutscheinen für Freizeitaktivitäten und lokalen Selbsthilfegruppen. Sie fordert schnell verfügbare Termine bei Psycholog*innen und Informationsveranstaltungen in Schulen. Sie wünscht sich, dass pflegende Kinder es irgendwann einfacher haben. Die vielen Nachrichten anderer Young Carer haben ihr gezeigt: "Endlich muss sich auch mal jemand um uns kümmern."