Sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern, das machen nicht nur berufstätige Erwachsene. Es sind auch junge Menschen mitten im Studium – eine große Doppelbelastung.

Maren machte gerade Abitur, als ihre Oma schwer stürzte. Sie brach sich die Hüfte zweifach, konnte nicht mehr laufen, war bettlägerig und erhielt Pflegestufe drei. Sie braucht Unterstützung – bei nahezu allem.

Mit gerade einmal 18 sieht sich Maren einer Pflegeverantwortung gegenüber. Gemeinsam mit ihrer Mutter, einer ausgebildeten Krankenschwester, und einem ambulanten Pflegedienst, der zweimal täglich kommt, kümmert sie sich fortan um ihre 84 Jahre alte Oma.

Auch deshalb entscheidet sie sich, für das Studium in der Nähe zu bleiben. "Ich wäre gerne zum Studieren weiter weggegangen. Ich habe von Berlin und Hamburg geträumt, das war ein großer Wunsch von mir", sagt Maren. Das Pflichtbewusstsein gegenüber der Familie überwiegt jedoch. Sie beginnt ein Jura-Studium in Düsseldorf, pendelt jeden Tag gut 60 Minuten je Weg. Doch sich richtig auf das Studium fokussieren oder ein typisches Studierendenleben führen, kann Maren nicht. Morgens steht sie um 5.30 Uhr auf, eine Stunde später macht sie sich auf den Weg zur Uni. Wenn sie gegen Nachmittag wieder zu Hause ist, verbringt sie Zeit mit ihrer Oma. Sie spielt dann Karten oder schaut Fernsehen mit ihr.

Sie unterstützt oft den Pflegedienst, der zwischen 18 und 19 Uhr kommt. Erst, wenn die Oma im Bett ist, hat sie Zeit für andere Dinge.

Pflegeverantwortung statt Unileben

Vier Jahre lang, von 2008 bis 2012, sah Marens Alltag so aus. Geschätzt zwischen 25 und 40 Stunden in der Woche umsorgte die heute 27-Jährige ihre Oma – neben einem Vollzeitstudium. "

Ich habe gelernt, Hausarbeiten geschrieben, hatte ein bisschen Freizeit oder habe Freund*innen getroffen und bin gegen 24 Uhr schlafen gegangen", sagt Maren, "oft, um kurz danach wieder aufzustehen, weil meine Großmutter vor Schmerzen stöhnte."

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Wie vielen Studierenden es wie Maren erging oder noch ergeht, lässt sich nur vermuten. Verlässliche Zahlen gibt es nicht. Benjamin Salzmann, Vorstandsmitglied von Wir pflegen, einer bundesweiten Interessensvertretung begleitender Angehöriger und Freund*innen in Deutschland hat dafür zum Teil eine Erklärung: "Es ist meistens so, dass es öffentlich so wahrgenommen wird, dass Pflege etwas ist, das alte oder mittelalte Menschen für alte Menschen machen", erklärt er. Laut einer Befragung des Zentrums für Qualität in der Pflege aus dem Jahr 2017 kümmern sich geschätzt 230.000 Kinder und Jugendliche zwischen zwölf und 17 Jahren um pflegebedürftige Angehörige. Aufgrund dieser Zahlen und des Anteils derer, die später studieren, kann man davon ausgehen, dass ein ebenfalls nicht geringer Prozentsatz von jungen Erwachsenen im Verlauf des Studiums Pflegeverantwortung übernehmen muss.

Ständig angespannt, nur physisch anwesend

Linda* kennt diese Doppelbelastung ebenfalls. Seit rund acht Jahren pflegt sie gemeinsam mit ihrem Vater ihre 68-jährige Mutter. Durch eine Herz- und Niereninsuffizienz sowie eine chronische Lungenerkrankung ist Lindas Mutter auf Hilfe angewiesen. Inzwischen ist ihr Zustand so schlecht, dass sie größtenteils bettlägerig ist. Zur Zeit der ersten Diagnose befand sich Linda ebenfalls in den letzten Zügen des Abiturs. Im Anschluss begann die heute 25-Jährige ein Chemie-Studium an der Ruhr-Universität in Bochum, was sich aber zu diesem Zeitpunkt nicht gut mit der Pflege vereinbaren ließ. Schließlich wechselte sie an die Universität Duisburg-Essen, um Kulturwirtschaft zu studieren.

Bei jedem Handyklingeln dachte ich, das ist jetzt der Anruf, wo man mir sagt, dass meine Mama tot ist.
Linda

Inzwischen läuft es besser mit dem Studium, unter anderem, weil Lindas Mama seit ungefähr vier Jahren einen Pflegegrad hat und damit Hilfe erhält. Die ständige Sorge um ihre Mutter und das stetige Koordinieren von Pflegeaufgaben, Freizeit und Studium sind dennoch allgegenwärtig. Besonders das vergangene Jahr war für Linda eine Zerreißprobe. "Meine Mutter lag acht Monate im Krankenhaus auf der Intensivstation. Und bei jedem Handyklingeln dachte ich, das ist jetzt der Anruf, wo man mir sagt, dass meine Mama tot ist", sagt sie.

Anwesend ist sie in den Seminaren oft höchstens physisch. Besonders in solchen, wo mündliche Mitarbeit gefordert ist oder Anwesenheitspflicht herrscht, ist das für Linda fatal. "Es ist unglaublich nervenaufreibend, man kann sich schlecht konzentrieren. Wenn man die ganze Zeit im Hinterkopf den Gedanken hat, dass du das 'Fahr vorsichtig' am Morgen zum letzten Mal gehört hast ...", sagt Linda, dann bricht ihre Stimme ab.

Obwohl ihr 55 Jahre alter Vater als Hauptpfleger eingetragen ist, muss Linda viel Zeit in die Pflege ihrer Mutter investieren. Zusätzlich geht sie arbeiten. Freizeit hat sie wenig. Auch den Gedanken an ein Auslandssemester verwirft sie schnell wieder. Acht Stunden sei sie für die Pflege eingetragen – tatsächlich sind es wohl einige Stunden mehr. Das liegt auch daran, dass schlichte Haushaltstätigkeiten wie Kochen oder Putzen nicht zur Pflegezeit zählen. "Weil es nicht direkt mit der Person zu tun hat, sondern quasi eine Art Luxusgut ist", erklärt Linda. Sie listet weitere Aufgaben auf: Duschen mindestens dreimal die Woche, Haare waschen, wunde Stellen pudern, den Katheter von der Bauchfelldialyse neu verbinden. Jeder Handgriff sei dabei eine ganz strenge Routine. "Wenn da irgendwas schief geht; jede kleine Infektion kann sie umbringen", sagt die Studentin.

Das Studium wird zur Nebensache

Diesen Druck, der mit der Verantwortung für einen pflegebedürftigen Menschen einhergeht, hat auch Maren gespürt. "'Was passiert, wenn ich sie beim Heben jetzt fallen lasse? Was mache ich, wenn Oma sich verschluckt und meine Mutter ist nicht da?' Das hat mich ziemlich belastet", erzählt sie rückblickend. Auseinandergesetzt hat sie sich mit den psychischen Folgen bis heute nicht. Sie habe nicht viel drüber geredet, auch, wenn alle Bescheid gewusst hätten. "Das ist kein Thema für den Mensatisch, hatte ich das Gefühl. Ich wollte eine 'normale Studentin' – wenn auch mit Augenringen – sein", beschreibt sie ihre damalige Lage.

Der Universitätsalltag wurde zur Nebensache. Maren musste mehrere Prüfungen verschieben, das Studium verlängerte sich dadurch, die Noten wurden schlechter. Linda erging es ähnlich. Im vergangenen Jahr konnte sie nicht mehr. "Ich habe viele Nächte dagesessen und Rotz und Wasser geheult, weil ich nicht wusste, wohin", sagt sie. Sie bekam Panikattacken beim Zusammenstellen ihres Stundenplans. Alles musste auf Ärzt*innentermine abgestimmt sein, auf Pflegezeit mit ihrer Mama. Sie schrieb der psychologischen Beratung der Universität Duisburg-Essen, erklärte ihre Lage. In der Antwort sagte man ihr, erst in vier Monaten sei ein Termin frei. "Da denkt man, dass mir auch offenbar keiner helfen will", sagt Linda ernüchtert.

Beratungsstellen an Universitäten sind dürftig

Generell ist das Beratungsangebot an Universitäten und Hochschulen in Deutschland für Menschen wie Linda und Maren eher gering. Oft gelangt man erst über mehrere Stationen an eine*n geeignete*n Ansprechpartner*in, muss von einer Stelle zur nächsten. Je nachdem, um welchen Bereich im Studium – Prüfungsordnung, Beurlaubung, finanzielle Unterstützung – es sich konkret handelt. Ein zusätzlicher Stressfaktor für ohnehin schon gestresste und überlastete Studierende. "Man weiß nicht, wo man hinsoll", sagt Linda. Während es für Studierende mit Kind flächendeckend viele Angebote und zentrale Ansprechpartner*innen gibt, fehlt das für Studierende mit Pflegeverantwortung an den meisten Unis.

"Es gibt zwar an den Unis diese Familienbüros, die das Thema Pflege dann auf dem Schirm haben, aber eher für Angestellte der Uni, nicht für Studierende", sagt Benjamin Salzmann von der Interessensvertretung Wir pflegen. Es sei dringend nötig, dass sich in dieser Hinsicht etwas tue. Salzmann habe sowohl erlebt, dass junge Menschen ihr Studium aufgrund der Pflege abbrächen, als auch, dass sie sich dafür entschieden, ein Studium gar nicht erst anzufangen. Manche bekämen zwar einen Studienplatz, aber nicht in der Nähe ihres Heimatortes, den sie wiederum nicht verlassen könnten – da sie ja die Pflege koordinieren müssten. Auch Versuche, per Härtefallregelung an die Uni zu kommen, scheiterten oft. "Weil die Regeln der Uni nicht darauf ausgelegt waren, dass die Pflege eines Angehörigen auch ein Härtefall sein kann", sagt Salzmann.

Sowohl Linda als auch Maren haben ihr Studium jedoch nicht aufgegeben. "Heute weiß ich manchmal nicht, wie ich die Kraft hatte", sagt Maren rückblickend. Dennoch würde sie es wieder machen, auch für ihre Mutter. Die Zustände in Pflegeheimen bezeichnet sie als menschenunwürdig und prekär, sowohl für die Pflegebedürftigen als auch für die Pflegekräfte. "Ich habe zu viel Respekt vor dem Leben meiner Mutter, als dass ich sie ruhigen Gewissens in eine solche Unterkunft geben könnte", sagt die 27-Jährige.

Linda sieht das ähnlich. "Für mich würde es sich egoistisch anfühlen, wenn ich sie einfach wegschubsen würde", sagt die Studentin. "Und wenn es dauert, bis ich 40 bin, ich würde es die ganze Zeit machen. Ohne Zucken, ohne Murren."

*Name von Redaktion geändert