[Warnung: In diesem Text wird selbstverletzendes Verhalten thematisiert. Das kann für einige Leser*innen – insbesondere für Menschen mit Borderline – erschreckend sein. Es handelt sich zudem um einen persönlichen Erfahrungsbericht und soll keinesfalls Betroffene stigmatisieren.]

"Du kannst nicht gehen", sagt Lisa*, 29, während sie sich vor ihre Zimmertür stellt und mir, 32, den Weg versperrt. Mein Kiefer und meine Rippe schmerzen. Da, wo mich vor fünf Minuten ihre Fäuste getroffen haben. Ich denke: Vernünftig wäre es, zu gehen. Zur Not muss ich noch ein oder zwei weitere Schläge einstecken, aber ich schaffe es schon irgendwie an ihr vorbei. "Jakob, ich brauch' dich doch", schluchzt sie und Tränen laufen ihr übers Gesicht. Plötzlich wirkt die Frau, die mich eben noch beschimpft und geschlagen hat, wieder so verletzlich. Wie könnte ich sie, nach der sich jeder Mann in der Bar umdreht und die alle für ihre herzliche und witzige Art lieben, jetzt alleine lassen?

Ich sacke auf Lisas Bett und rolle mich zusammen, leer und erschöpft vom Streit. Er war so sinn- wie anlasslos. Angeblich habe ich heute Nachmittag ihre Kollegin angeflirtet, dabei habe ich mich nur kurz mit ihr unterhalten und seit einem Jahr nur Augen für Lisa. Sie legt sich zu mir, schmiegt sich von hinten an, übersät mich mit Küssen. Meinen Arm, meine Schulter, mein Gesicht. Ich lasse sie gewähren und schlafe in ihrer Umarmung ein. Nach dem Aufwachen gibt es kein klärendes Gespräch. Das würde ohnehin wieder eskalieren. Stattdessen haben wir Sex, noch leidenschaftlicher als sonst. "Du bist das Tollste, was mir je passiert ist", flüstert sie mir danach ins Ohr.

Es fing alles so schön an

Ich habe solche Szenen mit Lisa oft erlebt während unserer zweijährigen Beziehung. Es war eine ständige Achterbahnfahrt aus Idealisierung und Entwertung, das ist typisch für Menschen mit Borderline-Störungen. Die Psychologin und Paartherapeutin Helga Odendahl sagt: "Die Beziehung zu Borderlinern ist nie langweilig. Denn auch wenn eine solche Eskalation sehr negativ ist, bekommt der andere dadurch eine große Wichtigkeit. Dreh- und Angelpunkt ist dabei immer die neue Verwicklung, das Binden über Schuldgefühle. Sie als Partner befinden sich in einem ständigen emotionalen Anbindungsprozess. Sie denken: Ich habe wieder was gemacht, weil sie auf mich einschlägt oder heulend wegrennt."

Am Anfang unserer Liebesgeschichte habe ich dagegen das Gefühl, überhaupt nichts falsch machen zu können. Alles ist ein Meer aus Zuckerwatte. Wir treffen uns im späten Frühling auf einer Party. Lisa ist sauclever, wunderschön und tanzt so herrlich selbstvergessen. Wir schreiben uns 500 WhatsApp-Nachrichten in einer Woche, mit tausend Komplimenten und noch mehr Albernheiten. Sie ruft an, 20 Minuten nach unserem ersten Date, um zu sagen, wie toll sie mich fand. Und von dieser kreuzdämlichen Drei-Tage-Regel hält sie auch nichts. Ich denke: Das ist die perfekte Frau!

Weil sie keins hat, ziehe ich nachts los und klaue das mintgrüne Fahrrad, das seit mehr als einem Jahr an der Bushaltestelle gegenüber verwittert. Nach zwei Tagen fährt es wieder. Und Lisa darauf neben mir zum Baggersee. Freund*innen sagen uns, dass wir ein unfassbar süßes und cooles Pärchen seien. Ich meine oft ein bisschen Neid herauszuhören. Und kann es verstehen: Ich fühle mich geliebt und gewollt wie noch nie. Wochenlang schlafen wir jede Nacht beieinander. Sie mit dem Kopf in meiner Halskuhle, ich mit dem Arm um ihre Hüfte. Und keiner von uns ist unerfahren, aber der Sex ist für uns beide eine Offenbarung. Als würden wir verschmelzen. Erst später lerne ich, dass auch das ein anfängliches Beziehungsmuster bei Borderliner*innen ist.

Ich bin an allem schuld

Therapeut*innen nennen die Krankheit heute emotional-instabile Persönlichkeitsstörung. Etwa drei Prozent der Menschen zeigen Anzeichen dafür, sagen neuere Studien. Fast immer äußern sich die Symptome im Teenager- oder frühen Erwachsenenalter. Die starke Verlustangst, die Menschen mit Borderline verspüren, löst schon bei kleinen Frustrationen extrem impulsive Reaktionen aus. Ich erfahre das, als ich nach drei Monaten das erste Wochenende alleine schlafe. Lisa ist zu ihren Eltern nach Ostdeutschland gefahren, ich habe Besuch von einem guten Freund, der im Ausland wohnt. Ich plappere den halben Abend völlig verzückt von meiner neuen Freundin, die andere Hälfte kippen wir Schnaps auf alte Zeiten.

Verkatert überlese ich am Mittag darauf Lisas WhatsApp-Nachricht und die perfekte Romanze kriegt den ersten Riss, weil sie mir das nicht glaubt. "Lügner", wirft sie mir beim Telefonat abends entgegen, "das ist echt armselig!" Keiner meiner Relativierungs- oder Erklärungsversuche bringt etwas. Ich komme nicht mal zu Wort. Die wüsten Beschimpfungen gehen über in bitterliches Weinen. Ich habe sie allein gelassen, sagt sie. Ich entschuldige mich demütig und bin ziemlich verstört vom Ausmaß des Streits.

Verlustangst und keine Bindungsfähigkeit

Die Ursachen für die Störanfälligkeit von Beziehungen bei Menschen mit Borderline erklären die Psycholog*innen durch frühkindliche Prägung. In dieser Zeit haben sie fast immer Vernachlässigung oder sogar Missbrauch erfahren. Helga Odendahl erklärt: "Um bindungsfähig zu sein, muss ich in der Lage sein zu differenzieren zwischen dem anderen und mir und ein inneres Bild des anderen aufrechterhalten können. Dieses Bild wird in der frühen Kindheit aufgebaut. Dass ich weiß: Meine Mutter geht einkaufen, sie kommt aber wieder, ich kann mich auf sie verlassen. So entsteht Bindungsfähigkeit. Und wie Verlässlichkeit und Bindung später erlebt wird, hängt damit stark zusammen."

Ich kenne Lisas Mutter und ihren neuen Mann, sie wirken freundlich, unterstützend und liebevoll – aber viel Aufmerksamkeit hat Lisa früher nicht bekommen. Nur ein knappes Jahr nach Lisa kommen ihre Zwillingsschwestern auf die Welt, die eine todkrank, die andere mit geistiger Behinderung. Dann stirbt auch noch der Vater früh. Ich vermute, dass Lisa schon früh gespürt haben muss: Jedes meiner Bedürfnisse ist verglichen mit dem Leiden meiner Schwestern und Eltern ein Nichts. Die Konsequenz: Borderliner*innen beschreiben ihr Selbstbild als leer und schwankend. Als Lisa schlecht auf ihren Unterrichtsbesuch im Referendariat vorbereitet ist, macht sie sich selbst vor mir runter: "Ich bin so unendlich dumm. Ich werde nie eine gute Lehrerin sein können." Ich versuche ihr gut zuzureden, ihre Stärken zu betonen. "Hör auf mit diesen saublöden Floskeln!", keift sie. Dann schlägt sie ihren Kopf gegen die Wand und beißt sich in die Oberarme, bis es blutet.

Meine Fehler verstärken ihr Verhalten

Die Selbstverletzungen sind das erste Phänomen, das ich als psychisch bedenklich wahrnehme. Bis dahin habe ich nur gedacht, Lisa sei einfach sehr impulsiv. Aber ich will mich nicht davonstehlen, auch wenn ich mich hilflos fühle, wenn Lisa sich malträtiert. Deswegen versuche ich mich noch intensiver zu kümmern. Und mache damit einen Fehler, weil es ihr Verhalten verstärkt, sagt Paartherapeutin Helga Odendahl: "Für den Partner ist es extrem schwer. Sie müssten eigentlich stark auf Distanz gehen. Wenn aber jemand im Streit den Kopf gegen die Wand schlägt, dann ist das für den Partner so erschreckend, dass man sich kaum umdrehen wird und gehen. Das ist aber eigentlich genau das, was man dann tun sollte."

Unsere Beziehung wird jede Woche stressiger, ich immer vorsichtiger. Und doch mache ich scheinbar immer mehr falsch. Berate ich mich mit einem engen Freund nach einem Streit, wirft mir Lisa vor, ich wolle über sie lästern und sie bloßstellen. Lisa beginnt Dinge zu sehen, die überhaupt nicht da sind. Fast jede meiner weiblichen Freundinnen ist eine Bedrohung und fies zu ihr, jede fremde Frau erst recht. Ich entschuldige mich ständig für Sachen, die gar nicht passiert sind. Weil ich immer denke: Wenn jemand so vehement behauptet, ich hätte die Bedienung im Club angeflirtet, habe ich ja vielleicht doch unbewusst Signale gesendet. Wenn ich mir ausnahmsweise sicher bin, nichts falsch gemacht zu haben, kratzt sich Lisa wieder die Arme auf. Oder sie wirft mir Verhalten vor, das sie gestern noch genau so eingefordert hat.

Plötzlich bekomme ich Panikattacken

An irgendeinem Freitag in der vollen U-Bahn überkommt mich plötzlich die heftige Angst, verrückt zu werden und in der Psychiatrie zu enden. Meine erste Panikattacke, nach einer Woche täglicher Dauervorwürfe am Telefon. Ich selbst weine zum ersten Mal, als ich bei einem Herbstspaziergang mit Lisa beginne, an meinen Gefühlen zu zweifeln. Und kriege direkt die nächste Angstattacke: Ich will nicht schuld sein am Ende der Beziehung. Das ist – das weiß ich jetzt – keine gesunde Einstellung, aber sie passt sehr gut als sogenannte Komplementärstörung zu Borderliner*innen, sagt Helga Odendahl: "Die einzigen Partner, die das lange mitmachen, sind die mit einer ganzen Menge Schuldgefühle. Die glauben, sie hätten das verdient." Auch ich denke so.

Ich bin doch schon an so vielem schuld, was falsch läuft. Und wenn alle anderen sie so toll finden, muss es ja an mir liegen, dass es gerade nicht gut läuft. Aber nichts funktioniert. Und nichts macht mir mehr Spaß. Nicht mal mehr zwei Stunden Fußball spielen. Das funktioniert sonst immer. An Ostern auf dem Weg zu Lisas Eltern wieder eine Panikattacke: Herzrasen, Schweißausbruch, das Gefühl unendlichen Drucks auf der Brust und die Angst verrückt zu werden.

Meine Freund*innen sagen später, ich sei zu der Zeit rumgelaufen wie ein Zombie.

Ich überstehe Ostern irgendwie und suche mir einen Psychotherapeuten, wegen der Panikattacken und weil ich definitiv depressiv bin, wenn mir Fußball keinen Spaß mehr macht. Der Therapeut zeigt mir zum ersten Mal, dass es vor allem Lisa ist, die sich problematisch verhält. Dass man zwar gewisse Techniken anwenden kann, um das destruktive Verhalten zu begrenzen, aber dass es trotzdem in der Therapie um mich geht und nicht um sie. Weil immer nur meine Wahrnehmung infrage gestellt wird.

Ich mache eine Therapie, sie nicht

Dass Lisa selbst eine Therapie helfen könnte, davon kann ich sie aber nicht überzeugen, selbst als ich sie darum anflehe, um die Beziehung zu retten, die ihr angeblich das Wichtigste auf der Welt ist. Lisas Antworten schwanken je nach Laune zwischen "Ich bin doch nicht psycho" und "vielleicht nach dem Examen". Als ich sie zum letzten Mal frage, sagt sie: "Du bist doch derjenige, der sich nicht sicher ist!" Dass das an ihrem Verhalten liegt, lässt sie nicht gelten. "Wenn du mich nicht so nehmen kannst, wie ich bin, lassen wir es besser."

In der Therapie lerne ich danach, den Trennungsschmerz zu verarbeiten und vor allem wieder auf mein eigenes Urteil zu vertrauen. Ich lerne, dass ihr Verhalten nicht meine Schuld war. Überhaupt: dass übertriebene Schuldgefühle generell nicht hilfreich und in Liebesdingen auch ziemlicher Mumpitz sind. Und dass ich ihr sehr, sehr wichtig gewesen sein muss. Denn Lisa war nur zu mir so. So unendlich zärtlich. Und so unendlich brutal.

* Damit die erwähnten Personen unkenntlich bleiben, haben wir ihren Namen und Details der Geschichte geändert.

Anmerkung der Redaktion nach Leser*innen-Feedback: Dies ist ein Erfahrungsbericht und gilt mitnichten für alle Menschen, bei denen Borderline diagnostiziert wurde. Es geht hier um eine persönliche Perspektive, nicht um Pauschalisierung.