Köln. Wir wissen, welche Bedeutung der

Karneval für die Stadt hat. Hast du dich auch gefragt, warum die Feierei dieses Jahr nicht abgesagt wurde?

Şeyda: Es gibt ja beim Karneval zumindest immer den Versuch, zu politisieren. Daher habe ich mich schon gefragt, warum das nicht konsequent zu Ende gedacht wird und man nicht auf die politische Realität antwortet und zum Beispiel fünf Tage antirassistischen

Streik macht oder Boykott. Aber die politische Realität von rassifizierten Menschen hat offenbar nicht so eine Gültigkeit, als dass die Mehrheitsgesellschaft das Bedürfnis hätte, kollektiv darauf zu antworten. Man möchte die eigene Realität am Laufen halten.

Gunda: Beim Rosenmontagszug wurde ja ein Wagen mitgeführt, auf dem ein weinender Dom zu sehen war: "Unser Herz schlägt für Hanau" stand drauf. Wie hast du das empfunden?

Şeyda: Das ist die Kölner Mentalität, so eine lauwarme Solidarität. Eine rein symbolische Selbstentlastung. Es stört nicht den Lauf der Dinge. Da stecken ja auch keine politischen Forderungen hinter. Mir hilft es nicht, wenn der Dom trauert. Was denkst du darüber?

Gunda: Auf der einen Seite ist man ja froh über jede Anerkennung, dass überhaupt etwas passiert ist. Aber an Weiberfastnacht, als morgens klar war, was am Abend zuvor passiert ist, war ich schon erschrocken darüber, dass so gar keine Disruption stattfindet. Dass Freund*innen in Köln einfach losziehen, als wäre nichts. Okay – 

Weiberfastnacht, dachte ich dann. Aber es ging ja weiter. Ich habe bis zum Schluss noch gedacht, dass der Rosenmontagszug vielleicht abgesagt wird und dann schrieb eine Freundin, sonntags würden Züge abgesagt und als ich dann nachgeschaut habe, warum, hieß es: Sturmwarnungen.

Şeyda: Ja, das ist sehr zynisch. Für mich war das auch schlimm zu beobachten. Jedes Karnevalsfoto war ein Schlag in die Magengrube. Der Alltag wird sofort normalisiert, aber jede Normalisierung ist eine Form von

Gewalt. Meine erste Reaktion auf Hanau war Wut und Trauer, aber auch Angst. Angst darüber, dass sich nichts ändern wird. Das wurde mir dann an Karneval wieder vor Augen geführt.

Gunda: Dann heißt es ja oft, dass das Feiern auch eine Form des lebensbejahenden Widerstands sei. Nach dem Motto: Jetzt erst recht!

Şeyda: Für mich kommt es auch drauf an, wer feiert. Wenn rassifizierte Menschen feiern gehen, dann gönne ich denen das. Sie haben es verdient, dass sich ihr Alltag auf irgendeine Weise normalisiert, wie und wann, darüber sollten sie selbst entscheiden. Aber der Rest? In einer anderen Gesellschaft, in der alle Leben gleich viel wert wären und gleichwertig bejaht würden, könnte man es als einen gemeinsamen, lebensbejahenden

Widerstand verstehen. So ist es aber nicht. Wessen Lebenswirklichkeit wurde an Karneval wieder bejaht? Auf jeden Fall nicht die von rassifizierten Menschen. Sonst hätte man auf ihre Bedürfnisse Rücksicht genommen.

Gunda: Zumal der Kölner Karneval, überhaupt

Köln, ja auch sehr gut darin ist, die eigenen Toleranz zu feiern und die eigene Migrationsgeschichte zu betonen. Das gehört in Köln zum Stadtnarrativ. Aber ich finde, dass dieses Argument des "jetzt erst recht" gerade in Bezug auf den Kölner Karneval fast lächerlich ist, denn es gibt nunmal keine weniger diverse Veranstaltung.

Şeyda: Es gibt ja Versuche, den zu politisieren, aber für die meisten ist es nur saufen. Rassismus und Sexismus bis zum Gehtnichtmehr und das ist dann lebensbejahend? Da werden die eigenen Privilegien von Leuten gefeiert, die doch eh die ganze Zeit ihre Privilegien feiern.

Gunda: Ich höre raus, dass du dir doch eine Disruption gewünscht hättest – doch eine Absage? Eine Gedenkfeier?

Şeyda: Ich möchte, dass der öffentliche Alltag gestört wird. Eine Disruption, auf die zwangsläufig politische Veränderungen folgen müssen. Streik, Boykott, dass der öffentliche Nahverkehr lahmgelegt wird zum Beispiel. Wo man spürt, dass es so nicht weitergehen kann. Ich möchte, dass es eine Erschütterung gibt, die durch alle Sphären des gemeinsamen Lebens läuft.

Gunda: Dafür hat auch eine Kollegin plädiert: Ich will Symbole, ich will Fahnen auf Halbmast, ich will Anerkennung von offizieller Stelle, dass etwas Schlimmes passiert ist.

Şeyda: Das verstehe ich auch, aber ich finde es schlimm, dass wir das überhaupt einfordern müssen. Selbst die symbolischen Gesten sind nicht selbstverständlich, das haben wir etwa damals nach den

NSU-Morden gesehen, bevor sich die Terrorist*innen selbst enttarnt haben. Mir reicht das aber nicht. Wann wird mal in der Polizei mit rechtsextremen Strukturen aufgeräumt, ein*e Sonderbeauftragte*r gegen Rassismus eingesetzt? Wann wird gestreikt, wann leisten die Leute Widerstand?

Gunda: Du bist ernüchtert, oder?

Şeyda: Ich glaub nicht mehr so richtig dran. Von wem sollte das denn kommen? Rassifizierte Menschen, da gehöre ich auch zu, sind damit beschäftigt, Energien zu sammeln und zu heilen. Dann gibt es eine große selbsternannte Mitte der Gesellschaft, die selbst rassistische Strukturen aufrecht erhält, dann gibt es solche, die sich mit Selbstaffirmation zufrieden geben und eine weißdeutsche Linke. Die machen Radau und Straßenschlachten, wenn die Rote Flora in Hamburg geschlossen werden soll, aber bei Hanau? Ich sehe nicht, wie und wo sich etwas kollektiv organisieren kann. Die Journalistin Sibel Schick hat das sehr treffend auf Twitter beschrieben: "Manche sagen: 'Nach Hanau kehrt die Normalität zu schnell zurück.' Das ist falsch. Die Normalität wurde nie gestört." Das ist genau der Punkt.