Sightseeing anno 2007: kein Google Maps zur Orientierung, keine Nahverkehrs-App. Unsere Autorin testet, ob sie heute noch in der Lage ist, einen Tag ohne Smartphone in einer fremden Stadt klarzukommen. Secondhand-Spielzeugladen, Schwangerschaftsyoga, ein schicker Laden für Umstandsmode: Ich bin in der Gentrifizierungshölle. Irgendwo in Prenzlauer Berg, wo zwischen den Häusern gespannte, bunte Tücher wie buddhistische Gebetsfahnen im Wind wehen. Wo Väter mit seltsamen Frisuren vor Buchläden auf der Bank sitzen und Prosecco trinken und Kinder vor ihrer Haustür selbstgemachte Crêpes verkaufen. Wie bin ich nur hier gelandet? Aber von vorn.

Eigentlich bin ich im Süden Deutschlands beheimatet und erst seit ein paar Tagen in Berlin. Es ist zwar nicht mein erstes Mal, aber das klassische Sightseeing im dicken B liegt schon mehr als zehn Jahre zurück. Damals hatte ich noch ein klapperiges Nokia-Handy ohne mobiles Internet und war mit einem überdimensionalen Stadtplan zum Auseinanderfalten unterwegs. Wenn ich heute neue Orte entdecke, hänge ich dagegen an meinem Smartphone wie ein Junkie an einer Nadel: Bei jedem noch so kleinen Zweifel an der Richtigkeit der eingeschlagenen Richtung konsultiere ich Google Maps. Verlasse mich blind auf die App, die mich zuverlässig von A nach B schickt. Und lasse mich andauernd von aufploppenden Nachrichten über meine Social-Media-Kanäle ablenken, statt mich ganz auf meine Eindrücke zu konzentrieren.

Analog in Berlin

Irgendwie verspüre ich den Drang, mir selbst zu beweisen, dass ich es immer noch ohne die digitale Droge schaffe. Wenn ich mich nun erneut in das Abenteuer stürze und in der Hauptstadt auf Entdeckungstour gehe, möchte ich das Ganze daher mit einem Experiment verbinden: Das Smartphone bleibt zu Hause. Ich will herausfinden, ob ich auch offline die wichtigsten Sehenswürdigkeiten, das beste Eis und die coolsten Kieze finde. Analog in Berlin.
Start: 10:30 Uhr. Ich düse als erstes Richtung Alexanderplatz. Dort vermute ich eine Tourist*inneninformation – und liege richtig. Allerdings ist sie ziemlich klein und ein bisschen versteckt im Durchgang eines Hotels. Für 2,80 Euro erwerbe ich dort eine Karte von Berlin City – die mit den wichtigen Gebäuden als dreidimensionale Symbole drauf. Der Mitarbeiter spult auf meine Frage nach Tipps freundlich seine Standard-Empfehlungen ab. Wahrscheinlich muss ich im Laufe des Tages doch ein paar Einheimische ansprechen, obwohl die ja angeblich nicht so Bock auf Urlauber*innen haben. Wir werden sehen.

11:30 Uhr: Da traumhaft schönes Frühlingswetter ist, habe ich keine Lust auf Museen oder andere Indoor-Aktivitäten und beschließe, erst einmal gen Zentrum zu laufen. Zentimeterdick mit Sonnencreme eingeschmiert passiere ich den Fernsehturm und erreiche nach kurzer Zeit das Spreeufer. Eine schwäbische Familie mit zwei Töchtern klettert gerade aus dem kleinen Boot mit dem klingenden Namen Nostalgie. "Des war subber!", sagt die Mutter und rät mir in ihrer Begeisterung dazu, ebenfalls eine einstündige Fahrt auf der Spree zu unternehmen. Warum eigentlich nicht? So sehe ich die wichtigsten Touri-Attraktionen, ohne mir gleich die Füße wund zu laufen.

Statt auf mein Display zu starren, genieße ich die Fahrt

12:30 Uhr: Frisch gestärkt mit einem Wrap entere ich den Kahn. Außer mir sind nur elf Gäste an Bord. Darunter ein Rentner*innen-Pärchen, das sich den einzigen Schattenplatz gesichert hat, und drei junge Männer mit Sonnenbrillen, die sich zu dieser frühen Stunde bereits Rum mit Cola aus der Dose reinzischen. Besonders auffällig finde ich aber einen schicken, bärtigen Mann, der eine Laptoptasche mit sich führt und sich erst mal eine grüne Berliner Weiße mit Strohhalm bestellt. Und nach 30 Minuten die zweite. Ist er überhaupt Tourist? Was will er hier? Während der Fahrt beobachte ich ihn aus dem Augenwinkel. In regelmäßigen Abständen greift er zu seinem Smartphone. Ich lächele überlegen in mich hinein: Statt ständig auf mein Display zu starren, genieße ich die Fahrt und lausche der Moderation von Rudi. Meine Sucht habe ich total im Griff. Lebe für den Moment.

13:30 Uhr: Beim Aussteigen kann ich meine Neugier nicht mehr zügeln und spreche den Bartträger an. Sein inzwischen roter Kopf bildet einen interessanten Kontrast zum zuvor getrunkenen grünen Bier. Er habe geschäftliche Termine in Berlin und sich "eine etwas ausgedehntere Mittagspause gegönnt", erklärt er mir. Na dann. Wahrscheinlich dienten die Blicke aufs Diensthandy vornehmlich der Beruhigung seines Gewissens. Das kann man akzeptieren. Ob er dabei jedoch mitbekommen hat, wie sich halbnackte Sonnenanbeter*innen am Ufer unter blühenden Bäumen fläzten, dass Berlin mehr Brücken als Venedig hat und dass die Bundestags-Kita mit zwei Kuppeln ausgestattet ist, die wie Brüste aussehen (Zitat Rudi: "Mein persönliches Lieblingsgebäude!"), wage ich zu bezweifeln.

Den Audioguide kann ich mir nur aufs Handy laden

13:40 Uhr: Sowohl die Schwaben-Familie als auch Rudi meinten, man dürfe die Hackeschen Höfe auf keinen Fall versäumen. Da war ich noch nie, und sie liegen laut Stadtplan in fußläufiger Entfernung. Also los. Schon die bunte Fassade im ersten Hof finde ich als Architektur-Fan überwältigend. Dann kommt der Moment, wo ich mich zum ersten Mal richtig ärgere. In jedem der Höfe weisen nämlich Glastafeln auf den Audioguide hin, den man sich kostenlos auf sein Handy laden kann. Wenn man denn eins hat. "Was macht das Besondere der Höfe aus? Wir erzählen die die spannende Geschichte des Konzepts" oder "Das wichtigste über die Hackeschen Höfe in 60 Sekunden." Hätte man solch kompakte Informationen nicht einfach als Text direkt auf die Tafel drucken können?!

14 Uhr: In einem der Höfe sonnt sich Irene auf den Steinstufen vor ihrer kleinen Boutique. Ich versuche, ihr eine Auskunft zu entlocken, aber viel mehr, als dass es sich um ein ehemals jüdisches Geschäftsviertel handelt, das nach der Wende restauriert wurde, weiß sie leider auch nicht. Dafür empfiehlt sie mir, die Kastanienallee in Prenzlauer Berg aufzusuchen: "Das ist schön für junge Leute. Und nicht so teuer wie die Läden hier." Klingt gut. Bevor ich in die Tram steige, spaziere ich noch am alten jüdischen Friedhof vorbei und zur neuen Synagoge. Mit meinem Smartphone hätte ich normalerweise gecheckt, wie es dort um die Öffnungszeiten der Ausstellung bestellt ist – und erfahren, dass diese bis Sommer 2018 geschlossen hat. Analog wie Gott mich schuf mache ich den Abstecher also ganz umsonst. Ärgerlich. Aber die Fassade ist nett anzuschauen.

Es ist schwer zu erklären, du müsstest es googeln." – Lisa

15 Uhr: Der Volkspark am Weinberg grünt und blüht. Ich geselle mich zu den vielen entspannten Menschen und genieße ein wenig die Sonne, bis ich Appetit bekomme. Zum Glück treffe ich auf Lotti und Lisa, zwei Studentinnen, die – oh Wunder – tatsächlich gebürtige Berlinerinnen sind. Endlich richtige Insidertipps! Sie nehmen mich mit in ihr Lieblingscafé, wo man hausgemachte Quiche für drei Euro bekommt. Die beiden warnen mich vor Tourist*innen-Spots wie dem Mauerpark, sagen mir, wo ich im Tiergarten hinmüsste, um nicht aus Versehen auf dem Strich zu landen und wollen mir schließlich einen Tipp für eine coole Bar geben. Der hört sich nur etwas kryptisch an: Das sind so Allee-Arkaden. Da musst du rein, dann bis ganz nach oben. Dann kommt da so ein Parkhaus, darüber ist die Bar. Ziemlich versteckt, aber mit einer super Aussicht. "Es ist schwer zu erklären, du müsstest es googeln", sagen sie.

Epic fail.

15:40 Uhr: Da es mich momentan sowieso mehr nach einem Eis gelüstet, frage ich Lotti und Lisa nach ihrer Lieblingseisdiele. Hoffnungsvoll laufe ich los. Und erschrecke ein wenig vor mir selbst: Die Wegerklärung ist nur wenige Minuten her, und schon bin ich mir nicht mehr ganz sicher, wo es langgeht. Ich spüre den brennenden Wunsch, den Namen der Lokalität in mein Handy zu tippen und bei Google Maps heranzuzoomen. Stattdessen begebe ich mich auf Spurensuche.

Auf der Mauer entlang des Parks sitzt eine junge Mutter mit zwei kleinen Töchtern, deren Gesichter bis zur Unkenntlichkeit mit Schokoladeneis verschmiert sind. Die wirken kompetent. Sie schicken mich die Straße runter, wo sich der Eisverkäufer ihres Vertrauens aus einem Fenster lehnt und mir mit strahlendem Lächeln, das einen leicht angedunkelten Zahn entblößt, zwei Kugeln im Becher reicht. Röstmandel und Karamell. Schmeckt fantastisch. Und ist natürlich biologisch und aus eigener Herstellung, wir sind ja schließlich in Prenzlberg.

Ich lenke meine Schritte in touristisches Niemandsland

16 Uhr: Mein Stadtplan endet genau hier. Meine Mission ist Bummeln; mutig lenke ich daher meine Schritte in touristisches Niemandsland. Und verlaufe mich sofort. Wo sollten jetzt hier noch mal die kleinen, bezahlbaren Läden sein? Und wie hieß dieser Unter-Kiez, von dem Lotti und Lisa gesprochen hatten? Ich laufe nach Gefühl, im Zickzackkurs, bis ich schließlich im eingangs erwähnten Mütter-Mikrokosmos lande. Wo einem der Ökoduft aus dem selbsterklärten größten Biosupermarkt Europas entgegenschlägt und die Cafés Namen wie Zuhause tragen. Umzingelt von Hipster-Eltern.

16:30 Uhr: Ich betrete einen Laden, dem man erst von innen ansieht, dass er vor allem Accessoires für Hochzeiten und sonstige Feiern feilbietet. Das einzige für mich interessante Produkt hier: Notfall-Konfetti für 2,50 Euro, in einem fingernagelgroßen Glasfläschchen. Ob es mich retten kann und hier rausbringt? Ich widerstehe dem Kaufimpuls und irre weiter.

17 Uhr: Jetzt möchte ich vor Freude doch mit Konfetti schmeißen: ein Secondhandshop! Endlich! So lange lechzte ich danach. Beim Betreten des Laden gibt es leider ein böses Erwachen, denn 70 Prozent des Sortiments sind – natürlich – für Kinder. Das süße blaue Kleid ist zu eng, mittlerweile bin ich müde und die Füße schmerzen. Die Odyssee durch Prenzlberg zollt ihren Tribut. Wie gerne würde ich jetzt nachschauen, wo die nächste Haltestelle ist und wie ich am schnellsten nach Hause komme.

18 Uhr: Auch ohne App habe ich es schließlich aus dem weißen Fleck auf dem Plan heraus und zu meiner Wohnung geschafft. Nun tanke ich ein wenig Kraft für den Abend. Ein bisschen Kultur muss nämlich unbedingt noch sein. Gestern hatte ich schon einen Plan gefasst:

Leseshow in Kreuzberg. Den Weg hatte ich mir ungefähr gemerkt, also komme ich zum Glück ohne Googles Hilfe aus. Allerdings hatte ich mich lose mit zwei Freund*innen verabredet und vorsorglich geschrieben, dass ich heute nicht mehr erreichbar bin. Ob das gutgeht?

19:40 Uhr: Der eine Freund ist mein Nachbar. Ich klopfe deshalb an seiner Tür, aber er ist nicht da.

Das Publikum der Leseshow bekommt Jellyshots

20 Uhr: Unfallfrei errreiche ich die Lokalität, eine seltsame Mischung aus Veranstaltungsraum, Radio und Bar, die aussieht wie eine finnische Sauna. Muskulöse, tätowierte Barkeeper in schwarzen Tanktops mischen Getränke zu Preisen, die mich an München erinnern. Mein Freund ist nicht hier. Auch von der anderen Freundin keine Spur. Am nächsten Tag wird sie mir erklären, dass sie unfreiwillig den gleichen Selbstversuch gemacht hatte und wegen Problemen mit ihrem mobilen Internet meine letzte Nachricht nicht bekommen hatte

. Im Zeitalter verbindlicher Verabredungen wäre das wohl nicht passiert. Früher war alles besser.

20:15 Uhr: Die Show beginnt. Nach Angaben der Veranstaltenden erwarten mich fortschrittliche Komik, Poetry-Slam-Texte und Musik. Außerdem gibt es nach der Pause ein Quiz. Bei einer richtigen Antwort bekommen entweder die Künstler (tatsächlich heute Abend ausschließlich Männer) oder die Zuschauer*innen einen Jellyshot in der Geschmacksrichtung Johannesbeere. Ich reiße einen davon an mich – zwar habe ich nichts geleistet, aber ich bin schließlich ohne Freund*innen hier und brauche Trost.

21 Uhr: Zwei der gehörten Texte passen erstaunlich gut zu meinem heutigen Experiment. Piet Weber erzählt Geschichten von seinem Opa. Der würde nach Überzeugung seiner Mutter sehr bald sterben, weil sie seine Symptome gegoogelt hatte und dem Netdoktor vertraute ("Es steht im Internet!"). Auch Christian Ritter referiert über die Freuden und Tücken des technischen Fortschritts: Wie mühsam war es damals, eine Pizza zu bestellen, während man heute eine Minute vor Eintreffen des Boten eine Push-Nachricht erhält: "Gerade noch Zeit genug, um eine Hose anzuziehen".

22 Uhr: Die Künstler sind Bekannte von mir und haben nach der Veranstaltung Zeit zum Plauschen. Mein Selbstversuch wirft bei ihnen die (nicht ganz ernst gemeinte) Frage auf: Wie kommt man eigentlich an Sex, wenn man kein Smartphone hat?

Mein Fazit: keine zittrigen Hände, keine Panikattacken

22:20 Uhr: Mein Bier ist ausgetrunken, ich werde immer unkommunikativer und überlege im Stillen, wie eigentlich mein Fazit lautet. Ich hatte Spaß und konnte mich, bis auf die Prenzlberg-Episode, ohne Smartphone gut zurechtfinden. Mein Handy hat mir im Großen und Ganzen erstaunlich wenig gefehlt. Keine zittrigen Hände, keine Panikattacken. Ohne die ständige Ablenkung hatte ich das Gefühl, mich wirklich auf meine Umgebung einlassen zu können, was das Sightseeing möglicherweise noch besser gemacht hat. Andererseits scheint es heutzutage fast unmöglich zu sein, sich analog zu verabreden. Und Erfindungen wie Navigations-Apps sind ein wahrer Segen, die ich nicht mehr missen möchte.

22:30 Uhr: Ich verabschiede mich von den Slammern. "Den Ausgang finde ich bestimmt auch ohne Google Maps", sage ich im Scherz. Und lache kurze Zeit später über mich selbst, als ich in der labyrinthartigen Anlage die richtige Tür suche. Dabei hätte mich allerdings auch mein Smartphone nicht gerettet.