Es fehlte nicht viel und wir hätten uns getrennt. Genau genommen war es das, was alle Welt um uns herum erwartete. "An deiner Stelle wäre ich schon längst weg", ließ mich eine Freundin wissen. Eine andere wünschte meinem Mann offen den Tod an den Hals. Denn der hatte, wie sich vor wenigen Tagen herausgestellt hatte, eine Affäre. Über Monate. Wie konnte das dermaßen an mir vorbeigegangen sein? Und wer war dieser Mensch überhaupt, der jede Nacht neben mir schlief? Ich schien ihn viel weniger zu kennen, als ich gedacht hatte.

Das alles machte mich wahnsinnig. Also stand ich kurz davor, dem Kerl vor lauter Verzweiflung in die Eier zu treten und mein Zeug zu packen. Wenn nicht eine dritte Freundin mit einem zerlesenen Buch namens Die Wahrheit beginnt zu zweit angerückt wäre – das Buch, das am Ende nicht nur unsere Beziehung rettete, sondern uns näher zusammenbrachte, als wir jemals für möglich gehalten hätten.

Es gibt mehr als eine Wahrheit

Der Ansatz des Arztes und Psychoanalytikers Michael Lukas Moeller, der besagtes Buch geschrieben hat, ist so simpel wie wirkungsvoll: Es gibt in der (Paar-)Beziehung nicht die eine, richtige Wahrheit, sondern jede*r von uns hat eine eigene. Keine von ihnen ist besser als die andere (obwohl wir das verdammt oft denken).

Um die Wahrheit der*des anderen kennenzulernen und zu verstehen, müssen wir miteinander reden – aber eben ganz anders, als wir es in unserer Alltagskommunikation gewöhnt sind. Die Methode, die Moeller dafür entwickelt und 1990 in seinem Buch festgehalten hat, nennt er Zwiegespräch. Und hier sind die Spielregeln dazu:

1. Fester Termin

Hier geht nix ohne Verbindlichkeit, denn das Zwiegespräch ist keine einmalige Sache, sondern ein langfristiges Projekt. Jetzt nicht gleich schreiend wegrennen – erste Ergebnisse sind sofort zu spüren. Nur bis der große Durchbruch erzielt wird, dauert es halt ein bisschen. Moeller selbst empfiehlt zwei Treffen die Woche à 60 bis 90 Minuten, aber das war für uns logistisch nicht drin. Also dachten wir: Einmal ist besser als keinmal – und ja, auch das funktioniert.

2. Fester Ablauf

Jede*r Partner*in hat den gleichen Redeanteil. Je nachdem, ob man sich für 60 oder 90 Minuten entscheidet, sind das zehn oder 15 Minuten am Stück, die mit dem Timer gestoppt werden. Danach ist die*der andere dran. Wichtig: sich einander gegenübersitzen, damit man sich in die Augen sehen kann. Kaugummi aus dem Mund, Musik aus und Handys in den Flugmodus! Das ist der Moment, in dem ihr euch auf eine einzige Sache konzentrieren solltet: euch beide.

3. Feste Regeln

Eine*r redet, eine*r hört zu. Wichtig für die*den Zuhörende*n: keine Unterbrechungen, Einwürfe, Fragen – auch wenn es noch so verlockend, sinnvoll oder unfair erscheint. Die*der Sprechende spricht nur über sich selbst und wie es ihr*ihm gerade in der Beziehung geht. Statt also Vorwürfe à la "Du interessierst dich nur für dich selbst, du Ego!" rauszuhauen, könnte man so etwas sagen: "Ich fühle mich ziemlich allein in der letzten Zeit. Mit fehlt unsere Verbindung."

Wenn man Zeit zum Nachdenken braucht, ist das völlig legitim. Stille gehört dazu und sollte genau wie der Redefluss nicht unterbrochen werden. Aufeinander Bezug nehmen ist okay, aber kein Muss. Jede*r von euch entscheidet selbst, worüber sie*er in ihrer*seiner Redezeit sprechen möchte.

Sich voreinander nackt machen statt Schuld zuweisen

Zugegeben, zunächst klingt das alles recht gewöhnungsbedürftig. Aber keine Sorge: Nach ein bis zwei Durchgängen hat man es raus. Das bisschen Aufwand lohnt sich nämlich. Auch Jahre nach dem Fremdgeh-Desaster bin ich mit meinem Mann glücklich – und das, ohne ihm irgendetwas auch nur im Ansatz nachzutragen. Weil wir uns, statt uns gegenseitig die Schuld an unserer Misere zu geben, voreinander nackt machten: Er mit seiner Sehnsucht nach Abenteuer, ich mit meiner Angst, verlassen zu werden.

Anderthalb Jahre lang haben wir uns wöchentlich zum Zwiegespräch getroffen und uns von unseren Bedürfnissen erzählt, von Träumen und Verletzungen. Dadurch haben wir verstanden, dass jede*r von uns ein Recht auf ihre*seine Gefühle hat. Wir lernten einander besser kennen als in den Jahren davor. Und uns selbst gleich mit. Denn das Zwiegespräch zwingt zum Reflektieren – nicht nur über die Beziehung, sondern über eigene Muster, Spleens und all das, was man überhaupt vom Leben will.

Emotionale Nähe macht sexy.

Noch heute treffen wir uns in brenzligen Situationen zum Zwiegespräch. Wenn wir uns im Alltag aus den Augen verloren haben. Wenn wir uns gegenseitig nur noch annerven. Wenn wir das Gefühl haben, aneinander vorbeizureden. Egal, wie groß die Distanz vorher zwischen uns gewesen ist, danach fühlen wir uns nah. Angenehmer Nebeneffekt: Direkt im Anschluss fallen wir jedes Mal übereinander her. Denn emotionale Nähe macht eben sexy.

Klar, wir hätten all den Aufwand nicht betreiben müssen. Wir hätten uns damals auch einfach trennen und mit jemand anderem neu anfangen können. Aber das war es uns wert. Ganz einfach, weil wir uns liebten. Und weil wir insgeheim schon ahnten, dass es mehr als die eine Wahrheit gibt.