Das Thema Männlichkeit ist so aktuell wie lange nicht. In der Öffentlichkeit wird viel diskutiert: Was hat es mit Geschlechterrollen auf sich? Wie schadet eine gewisse Form der Männlichkeit Frauen und wie schadet sie Männern selbst? Wie können wir damit aufhören, Jungs dazu zu erziehen, ausschließlich hart und stark sein zu müssen? Und was hat Männlichkeit mit Gewalt zu tun? Besonders die letzte Frage treibt auch den 24-jährigen John um. John wohnt in Dresden, studiert Politikwissenschaften und ist schon länger Teil der linken Szene. Er findet feministischen Aktivismus wichtig und engagiert sich politisch.

Doch John hat selbst schon problematische Männlichkeit erlebt. Er hat emotionale und körperliche Gewalt gegenüber einer Frau ausgeübt, mit der er in einer Liebesbeziehung war. "Das war ein Zusammenspiel verschiedener Dinge", sagt er heute, "wir hatten so eine Mutter-Sohn-Dynamik und ich habe sehr viel Druck auf sie aufgebaut, die Mutter-Rolle einzunehmen. Ich war kaum fähig dazu, ihr zu sagen, wie es mir mit ihr und unserer Beziehung ging. Wenn sie das ansprach und Offenheit verlangte, habe ich zugemacht und war erst wieder für sie zu erreichen, wenn sie das Thema beilegte und sich um mich kümmerte. Tat sie dies nicht, drohte ich manchmal auch mit körperlicher Gewalt oder wurde handgreiflich."

Das Gefühl des Ausgeliefertseins

Seitdem John sich mit dem Thema Männlichkeit beschäftigt, versteht er besser, wie es zu dieser Konstellation und seinem Verhalten kommen konnte. "Ich konnte das Gefühl nicht aushalten, von meiner Freundin emotional abhängig zu sein. Als Mann hatte ich verinnerlicht, stark und unabhängig sein zu müssen. Eine Beziehung einzugehen, bedeutet aber natürlich auch, sich auf eine andere Person einzulassen und sich irgendwo auch auszuliefern." Gewalt auszuüben, so sieht John es heute, war der ohnmächtige Versuch, das Gefühl des Ausgeliefertseins loszuwerden, das die Beziehung und die Nähe darin in ihm auslösten.

Erst drei Jahre später, 2017, kommt er auf die Idee, dass sein Verhalten etwas damit zu tun hatte, dass er als Mann bestimmte Eigenschaften verinnerlicht hat. Er nimmt an einem feministischen Workshop teil und stellt fest, dass es auch andere Männer gibt, denen die Worte fehlen, um ihre Gefühle auszudrücken, die sich von diesen abgeschnitten fühlen, die Schwierigkeiten haben, ihre Wünsche und Bedürfnisse wahrzunehmen und anderen verständlich zu machen. John ist nicht der einzige, der jemanden mit dominantem und gewaltvollem Verhalten verletzt hat. "Das tun sehr viele Menschen, die männlich sozialisiert wurden – wenn nicht sogar alle", sagt er heute, zwei Jahre später.

Nach dem Workshop lässt ihn das Thema nicht mehr los und er gründet mit acht anderen Männern eine profeministische Männergruppe. Dass die Gruppe profeministisch ist, ist John besonders wichtig. "Wann immer man sich mit der Frage beschäftigt, wie auch Männer unter Geschlechterrollen leiden, darf man nicht aus den Augen verlieren, dass das keine strukturelle Benachteiligung ist. Menschen, die keine Männer sind, haben nichts davon, wenn Männer zum Beispiel weniger oft zum Arzt gehen und deshalb eher sterben. Aber Männer haben in aller Regel etwas davon, wenn Menschen anderen Geschlechts benachteiligt sind", sagt er. "Wenn zum Beispiel weniger Frauen in Chefetagen aufsteigen oder wenn Frauen unbezahlte Hausarbeit machen, profitieren Männer davon."

Kritischer Blick auf Männlichkeit

Mithilfe der Männergruppe will John die Erfahrung aus dem Workshop mit in den Alltag nehmen, sich weiter austauschen und kritisch auf das blicken, was er an schädlichen männlichen Rollenbildern verinnerlicht hat. Die neun Männer starten hochmotiviert, suchen nach gemeinsamen Themen und versuchen miteinander über Persönliches ins Gespräch zu kommen. Erst mit der Zeit bemerkt John, wie wenig es oft um die anwesenden Personen, ihre Gefühle, Wünsche und auch ihr problematisches Verhalten geht. Stattdessen wird darüber diskutiert, wie die Gruppe nach außen auftreten sollte und wie sie sich mit anderen Gruppen vernetzen könnte. Auch John treibt diese endlos kreisenden Diskussionen voran. Bloß nicht über sich selbst reden müssen, so kommt es John im Nachhinein vor, und stattdessen den normalen Politgruppenmodus fahren.

Es bringt Männer sogar enger zusammen, wenn sie ihre beschissenen Verhaltensweisen wie ein Geheimnis miteinander teilen!
John

Ein Treffen mit seiner Gruppe ist John besonders im Gedächtnis geblieben: Ein Mann erzählt davon, wie er vor einigen Jahren einen sexuellen Übergriff begangen hat. In einem Club hat er auf der Tanzfläche ungefragt eine fremde Frau begrapscht. Es fällt ihm schwer, überhaupt davon zu erzählen, er hat nach wie vor starke Schuldgefühle. Die Männer sprechen allerdings nur bei diesem einen Treffen darüber, in den Wochen darauf ist das Thema aus den Gesprächen verschwunden; die Tat und ihre Hintergründe fallen unter den Tisch. Diese Dynamik beobachtet John immer wieder und er beginnt sich zu fragen, ob die Gruppe nicht eigentlich eher dazu beiträgt, das Gewissen der Mitglieder zu entlasten, wie eine Art feministischer Beichtstuhl. Wenn man das eigene gewaltvolle Verhalten in der Männergruppe besprochen hat, dann hat man Buße getan, dann hat man es reflektiert und dann ist Ruhe.

Folgenloser Austausch?

Heute sagt John, dass das eine subtilere Variante der Kumpeldynamik ist, mit der sich Männer gegenseitig schützen und gewalttätiges Verhalten decken. Dadurch, dass Männer sich nicht gegenseitig zur Verantwortung ziehen, tragen sie dazu bei, dass Gewalttaten durch Männer immer wieder ohne Konsequenzen bleiben. Auch in der Männergruppe, die sich nach wie vor trifft, gab es aus seiner Sicht diesen Mechanismus: Männer erzählten sich gegenseitig von sexistischem und übergriffigem Verhalten, aber daraus folge nichts. "Im Gegenteil, es bringt Männer sogar enger zusammen, wenn sie ihre beschissenen Verhaltensweisen wie ein Geheimnis miteinander teilen!" Im Kleinen hat John mit seiner Gruppe etwas erlebt, was es auch in der Gesellschaft insgesamt gibt. Die im US-Wahlkampf 2016 veröffentlichten Aufzeichnungen von frauenverachtenden Äußerungen Donald Trumps sind hierfür nur ein drastischeres prominentes Beispiel.

Trotz dieser ernüchternden Erfahrungen findet John es sehr wichtig, dass sich Männer damit auseinandersetzen, wie sie männliche Rollenanforderungen erleben und wie sie sie erfüllen. "Das ist überhaupt nicht einfach", sagt er. Aber es sei unerlässlich. Heute führt er seine Auseinandersetzungen mit eigenen männlichen Verhaltensweisen vor allem in nahen Beziehungen mit Freund*innen. "So eine Auseinandersetzung mit sich selbst ist langwierig und oft auch schmerzhaft. Aber wenn sich wirklich etwas ändern soll an Diskriminierung und Gewalt in der Gesellschaft, dann müssen Männer anfangen, sich damit zu beschäftigen, was Männlichkeit aus und mit ihnen macht und welche Auswirkungen das auf andere hat."