"Reiß dich endlich zusammen!" Diesen Satz habe ich unzählige Male zu meiner Mutter gesagt. Als sie weinend vor mir stand, als sie nicht aus ihrem Bett aufstehen konnte und als sie wegen der kleinsten Unannehmlichkeit zusammengebrochen ist. "Reiß dich endlich zusammen!" Da war ich etwa 14 Jahre alt und ahnte noch nicht, dass meine Mutter unter Depressionen litt.

Ich war zunehmend genervt von meiner Mutter, von ihren schwachen Momenten, von ihrer Unfähigkeit, sich aufzurappeln. Sie versuchte, es mir zu erklären. Sie versuchte, die dunklen Gefühle, die sie plagten, in Worte zu fassen: Antriebslosigkeit, Weltschmerz, Angst, Hilflosigkeit. Alles Begriffe, mit denen sie mir ihre Situation verständlich machen wollte. Und meine Reaktion darauf war erneut ein kaltes: "Reiß dich zusammen!"

Irgendwann hörte sie auf, sich erklären zu wollen. Wir unterhielten uns nicht mehr über unser Befinden. "Na, wie läuft's in der Schule?", fragte meine Mutter. "Übrigens, ich habe einen neuen Nebenjob", berichtete ich. Bloß kein Thema anschneiden, das sie wieder runterziehen könnte, war meine Devise. Später sollte mir klar werden, dass das nicht der richtige Umgang mit den Depressionen meiner Mutter war.

Wenn sie unsicher war, wurde ich wütend

Über Monate hinweg verlief unser gemeinsames Leben nach einem ähnlichen Schema. Wenn sie unsicher war, wurde ich wütend. Wenn sie weinte, wurde ich noch wütender. Ich konnte und wollte nicht verstehen, wieso diese Frau, die eigentlich für mich sorgen sollte, nicht mehr fähig war, sich mir gegenüber wie eine Mutter zu verhalten. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass sich unsere Rollen verschoben: Das Kind wurde zur Mutter. Ich übernahm ihre Aufgaben im Haushalt und machte mir andauernd Sorgen um sie.

Unsere Beziehung befand sich in einem ständige Auf und Ab. Manchmal war sie Wochen oder sogar monatelang wieder gut gelaunt, motiviert und selbstbewusst. Die Anspannung, ob wieder ein Breakdown kommen würde, ließ mich keinen Tag los. Und wenn etwas passierte, mit dem meine Mutter nicht gerechnet hatte, brach sie wieder zusammen. Dann erneut Behandlung oder Kur.

Ich kann das nicht, ich bin krank!

Ich fühlte mich über Jahre wütend, verunsichert und hilflos. Ständig habe ich Sätze gehört wie: "Ich kann das nicht, ich bin krank!" Bei mir kamen diese Sätze so an, als würde sie ihren Zustand als eine Art Ausrede benutzen: um nicht arbeiten zu müssen, um den Müll nicht raustragen zu müssen oder sich um Geldfragen kümmern zu müssen. Dieser Gedanke wiederum hat mich immer noch wütender gemacht. So kam es, dass ich selten traurig, dafür immer wütend war. So hart das klingt.

Ich versuchte, Hilfe zu holen. Ich wendete mich an meinen Vater, von dem meine Mutter getrennt ist, seit ich zwei Jahre alt bin. Ich sprach mit Verwandten und Freund*innen. Am Anfang war es mir immer etwas unangenehm, weil ich das Gefühl hatte, dass andere es genauso wenig verstehen wie ich. Aber über die Jahre wurde mir klar, dass andere ähnliche Erfahrungen wie ich mit Eltern gemacht hatte. Und so wurde mir nach einiger Zeit klar: Meine Mutter hat Depressionen.

Man muss begreifen, dass es nicht die eigene Baustelle ist

Ich habe sehr lange gebraucht, um zu verstehen, dass eine Depression nichts ist, was man als außenstehende Person nachvollziehen kann. Man kann sich nicht in den Kopf der anderen hineinversetzen, man kann deren Gedanken nicht verstehen, ebenso wenig die Ursache für dieses unsichtbare Problem. Es ist für Menschen wie mich, im direkten Umfeld der betroffenen Person, fast unmöglich, richtige Hilfe zu leisten. Tatsache ist aber auch, dass das gar nicht nötig ist.

Das erklärt mir Jahre später Silvia Höfer, die als Kinder- und Jugendtherapeutin arbeitet: "Als Kind oder junger Erwachsener muss man sich in gewisser Weise vor der schlechten Stimmung des depressiven Elternteils distanzieren. Diese Probleme dürfen nicht zu den eigenen werden." Ganz wichtig sei es auch, sich bewusst zu machen, dass die Depression eines Elternteils auf keinen Fall die Baustelle des Kindes ist und es nicht als Helfer*in fungieren muss. "Eine professionelle Betreuung oder Therapie ist für die Betroffenen immer noch der beste Weg", erklärt sie. Für das Kind sei es zudem wichtig, eine Vertrauensperson zu haben. Das können Freund*innen sein, Lehrer*innen oder andere Verwandte, mit denen es sich über Probleme austauschen kann. Am allerwichtigsten ist laut Silvia Höfer jedoch eine gute und vor allem offene Kommunikation zwischen dem betroffenen Elternteil und dem Kind. Auf keinen Fall dürfe ein solches Thema tabuisiert werden.

Heute weiß ich: Meine Mutter ist eine starke Frau. Sie hatte keine leichte Kindheit, auch wenn das klingt wie eine abgenutzte Redensart. Immer wieder ist in ihrem Leben etwas passiert, das sie aus der Bahn geworfen hat. Manchmal weniger stark, manchmal mit voller Wucht.

Das Mutter-Tochter-Verhältnis aufrechterhalten

Ich weiß inzwischen auch, dass ich nicht für ihr Problem verantwortlich bin. Natürlich habe ich als Tochter eine Bindung zu meiner Mutter, die sich nicht einfach so ignorieren lässt, natürlich will ich, dass es ihr gut geht und natürlich habe ich in gewisser Weise eine Verantwortung ihr gegenüber. Aber ich habe verstanden, dass wir nur zusammen funktionieren können, wenn wir das Mutter-Tochter-Verhältnis so beibehalten, wie es ursprünglich gedacht war. Das bedeutet für mich, dass ich mich aus manchen Dingen in ihrem Leben herauszuhalten habe, auch wenn es mir schwer fällt, weil ich denke, dass ich die bessere Lösung für ein Problem habe. Ich habe gelernt, dass ich ihr nicht direkt helfen kann, dass ich dafür aber auch nicht zuständig bin.

Ich habe gelernt, dass ich meine Mutter unterstützen kann, indem ich ihr zuhöre, nicht bei jeder ihrer Unsicherheiten wütend und laut werde und versuche, Verständnis dafür aufzubringen, dass die Depression ein Teil von ihr ist und dass sie mit manchen Situationen einfach weniger gut klarkommt als andere.

Ihre Krankheit ist ein andauernder Prozess, mit dem ich mir auch nach Jahren noch sehr schwer tue. Ein Patentrezept dafür gibt es nicht. Ich glaube aber, dass man am besten mit der Depression eines Elternteils klarkommt, wenn man die richtige Balance zwischen Hilfe und Abgrenzung schafft. Und: Ein bisschen weniger "reiß dich zusammen", dafür ein bisschen mehr zuhören.

Außerdem auf ze.tt: #LetsTalkAboutMentalHealth: Was bedeutet es, wenn du an einer Depression leidest?