Marine Le Pen könnte Geschichte schreiben und die erste Präsidentin des Landes werden. Sie ist nach Segolène Royal die zweite Frau, die es in die Stichwahlen geschafft hat. Doch auch wenn sie die Abstimmung am Sonntag – wie von Meinungsforscher*innen prognostiziert – verliert, kann sie von einem vollen Erfolg sprechen. 7,66 Millionen Französ*innen haben für sie gestimmt, das sind 21 Prozent der Stimmen. Der Front National (FN) ist so beliebt wie nie zuvor in seiner Geschichte. Die Gründe für Le Pens Erfolg? Die 48-Jährige profitiert nicht nur von Arbeitslosigkeit, Politikverdrossenheit, Terrorangst und Globalisierungsnöten. Sie schlägt Kapital aus ihrem Geschlecht.

So ist die Rechtsextreme für Frauen offensichtlich die Kandidatin der Wahl, wenn es ums Thema Gleichberechtigung geht. 20 Prozent der Wählerinnen, die dazu nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl Ende April vom Meinungsforschungsinstitut Ifop befragt wurden, sehen Le Pen als diejenige, die sich am ehesten für Frauenrechte einsetzt. Dabei laufen Feminist*innen Sturm gegen ihr Programm. Als Abgeordnete des Europäischen Parlaments habe sie gegen zahlreiche Gesetze für mehr Gleichberechtigung von Frauen in der Arbeitswelt gestimmt, so die Kritik.

Die ausgeschiedenen linken Kandidaten Benoît Hamon und Jean-Luc Melenchon legten ihre Vorschläge zu Themen wie Lohngleichheit oder Bekämpfung von sexueller Gewalt deutlich detaillierter dar. Le Pen widmet dem Thema Frauenrechte einen von 144 Punkten in ihrem Programm: Der Front National will einen nationalen Plan für Lohngleichheit einführen, gegen soziale Unsicherheit und prekäre Arbeitsverhältnisse vorgehen. Details werden nicht genannt. Zudem will die Partei gegen Islamismus kämpfen, der die Grundrechte von Frauen einschränke.

Kampf für Gleichberechtigung?

Für Muriel Coativy sind die Person Marine Le Pen und ihr vermeintlicher Kampf für mehr Gleichberechtigung ein Hauptgrund, sich im Front National zu engagieren. Die 51-jährige Mutter von vier Kindern ist in einem Wahlkreis am Rande der drittgrößten französischen Stadt Lyon FN-Kandidatin für die im Juni anstehende Parlamentswahl und sitzt derzeit als Abgeordnete für die Partei im regionalen Parlament. Zum ersten Mal habe sie 2002 für den Front National gestimmt, als Parteigründer Jean-Marie Le Pen erstmals in die Stichwahl ums Präsidentenamt gewählt wurde und das Land in Aufruhr versetzte.

"Aus Protest dagegen, dass man uns vorschreiben wollte, wie wir wählen sollen", sagt Coativy und meint den gemeinsamen Appell der bürgerlichen Parteien, nicht die Rechtsextremen zu wählen und die gelobten, ihre Politik zu ändern. Richtig aktiv wurde sie in der Partei jedoch erst, seitdem Marine Le Pen 2011 das Amt der Parteivorsitzenden von ihrem Vater übernahm, so Coativy. "Für mich ist wichtig, dass sie eine Frau ist. Ich finde mich in dieser starken Persönlichkeit wieder. Wir haben etwa das gleiche Alter, wir sind beide Anwältinnen und wir haben einen Vater mit einem starken Charakter", sagt sie lachend.

Der Front National ist für sie eine Partei, die Frauenrechte wirklich schütze. Die zierliche blonde Frau erklärt freundlich und geduldig, warum: Die Partei wolle Frauen finanziell unterstützen, die ihren Beruf aufgeben möchten, um sich ausschließlich um die Kindererziehung zu kümmern. Schließlich habe sie das Glück gehabt, sich für so ein Leben entscheiden zu können. Es nerve sie, dass man Frauen heutzutage das Lebensmodell von der berufstätigen Mutter aufzwinge, die ihre Kinder in Fremdbetreuung gebe. "Als wenn es eine Strafe wäre, seine Kinder selbst großzuziehen."

Davon, dass Anreize für Väter geschaffen werden, sich mehr um die Kinderbetreuung zu kümmern, hält Coativy wenig. "Natürlich gibt es Männer, die gerne ihre Kinder großziehen möchten, aber das bleibt trotzdem ein Mutterinstinkt. Wir sollten die Natur respektieren."

Frauen trauen sich nicht mehr, kurze Röcke anzuziehen

Mit dem Kampf gegen den Islamismus widme sich der Front National zudem einem zweiten angeblich unvermeidlichen Aspekt beim Thema Frauenrechte, so die Lokalpolitikerin weiter. Es gebe Frauen, die sich heutzutage nicht mehr trauen würden, kurze Röcke anzuziehen oder öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, weil sie Angst hätten, von muslimischen Männern belästigt zu werden.

Ganz zu schweigen von dem Druck, der auf muslimische Frauen ausgeübt werde. Coativy nennt als Beispiel Muslimas, die keinen Zugang zur Arbeitswelt fänden, weil sie ihr Kopftuch nicht ablegen wollten. "Marine ist die einzige, die das Problem wirklich anpackt."

Der Kampf gegen diese vermeintlichen Parallelgesellschaften ist eines der Hauptthemen im Wahlkampf. Als Argument gegen religiöse Symbole wie das Kopftuch wird die in Frankreich so hoch gehaltene Laizität, die Trennung von Staat und Kirche, immer wieder angeführt. Der Front National will das Prinzip auf den öffentlichen Raum und die Arbeitsgesetze ausweiten – verhüllte Muslimas dürften damit de facto nicht mehr arbeiten oder auf die Straße gehen. Die Rechte dieser Frauen würden damit also alles andere als gestärkt.

Gegen Einwanderung

Wahlversprechen für mehr Frauenrechte, die am Ende gar nicht den Frauen helfen: Das ist ein Widerspruch, der laut Nonna Mayer im Programm von Marine Le Pen System hat. Mayer ist Soziologin und Forscherin am staatlichen Forschungsinstitut CNRS in Paris. Sie beschäftigt sich mit Le Pens Wahlkampftaktik und der Entwicklung ihrer Wählerschaft seit den Präsidentschaftswahlen 2012 und stellt fest: FN-Wählerinnen stimmen nicht für Le Pen, weil sie mehr Gleichberechtigung wollen.

Wenn die Politikerin über die Rechte von Frauen, Homosexuellen oder Juden rede, sei dies ein Mittel, um die Gefahren eines islamischen Fundamentalismus herauszustellen. Auch ihren Wählerinnen gehe es vor allem um die Bekämpfung von Einwanderung, ein Thema, das der Front National seit Jahrzehnten besetzt und das durchaus auch Potenzial bietet: 57 Prozent der Französ*innen finden laut einer Studie von 2016, dass zu viele Einwanderer im Land seien. 45 Prozent sind dafür, die Grenzen zu schließen.

Trotzdem war die Partei unter Führung von Jean-Marie Le Pen für Wählerinnen nicht attraktiv. Das liege zum einen an der Person des Parteigründers, der mit seinem offenen Antisemitismus, seinem sexistischen und auch gewalttätigen Auftreten Frauen verschreckt habe. Zum anderen sei es für Frauen generell lange nicht infrage gekommen, für extreme Parteien zu stimmen. "Frauen unterwerfen sich eher der gesellschaftlichen Norm und tendieren zu Mainstream-Parteien", so Mayer.

Doch Marine Le Pen sei dabei, mit diesem Wählerverhalten in Frankreich zu brechen. 2012, ein Jahr nach ihrer Machtübernahme, seien etwa 30 Prozent der Wähler*innen Frauen gewesen. Fünf Jahre zuvor, als Jean-Marie Le Pen noch Kandidat war, waren es weniger als die Hälfte. 53 Prozent der Wahlberechtigten in Frankreich sind Frauen, erklärt die Soziologin. Marine Le Pen habe die Bedeutung dieser Wählerschaft erkannt und arbeite gezielt an ihrem Image als starke moderne Frau, die sich in einer Welt voller Männer behaupte.

Das Ziel: Wiederherstellung französischer Werte

Gewählt wird die Politikerin aber auch von Französinnen, die von diesem Image wenig halten. Sie überzeuge das Programm des Front National, das für die Wiederherstellung französischer Werte stehe, so Christine Théveny, deren Mann nicht will, dass ihr richtiger Name publik wird. Die junge Frau ist Mutter von zwei Kindern und Hausfrau. Sie ist Teil einer nationalistischen katholischen Vereinigung und findet, dass Frauen eigentlich nicht in die Politik gehören. Diese Frauen wählen Le Pen, weil die Kandidatin – trotz der Modernisierungskampagne – nicht von den nationalistischen fremdenfeindlichen Grundwerten der Partei abgerückt ist.

Für alle anderen Wählerinnen gibt es eine Hochglanz-Beilage im Parteiprogramm. In dieser präsentiert sich "Marine Präsidentin", so das Titel-Logo, von ihrer privaten Seite. "Anlässlich dieser Präsidentschaftswahlen wollte ich, dass Sie mich so kennenlernen können, wie ich wirklich bin", heißt es in einem kurzen Text. Die Beilage ist gespickt mit persönlichen Fotos: Le Pen als junge Frau, Mutter, Anwältin, Schwester. Die Leserinnen erfahren, dass sie drei Kinder in einem Jahr bekommen hat, eine fleißige Jurastudentin war und mit acht Jahren einen Anschlag gegen das Haus der Familie nur knapp überlebt hat.

Ihre weibliche Sensibilität helfe ihr, Ungerechtigkeiten besser zu erkennen und Schwache zu verteidigen, heißt es außerdem. Ihre Talente als Kämpferin werde Le Pen für ihre Wähler*innen nutzen. Zudem sei sie die Anti-Merkel und die Stimme des freien Europas. Im Logo "Marine Präsidentin" ist eine blaue, liegende Rose zu sehen. Das Blau, so wird es im Programm erklärt, sei ein Symbol für das "Unmögliche, das machbar werden kann."