Als Matthias Huber sieben Jahre alt war, lag seine Mutter für längere Zeit im Krankenhaus. Jedes Mal, wenn die Besuchszeit vorbei war, weinten und schrien seine Geschwister und klammerten sich an die Mutter. Matthias Huber hingegen drehte sich um und ging. Ohne eine mimische Regung zu zeigen. Die anderen Patientinnen im Zimmer meinten: Der Junge sei ja wie ein Roboter. Der hätte ja keine Gefühle.

"Meine Mutter wusste, dass das nicht stimmt", sagt Matthias Huber heute. "Sie wusste genau, dass diese Abschiede für mich auch sehr schlimm waren oder genauso schlimm waren, aber dass ich Mühe hatte, meine Gefühle auszurücken." Seine Mutter spürte damals schon, was Jahre später einen offiziellen Namen bekommen sollte: Ihr Sohn hat Asperger.

Matthias Huber ist diagnostizierter Autist. Der Psychologe, der mit Kindern und Jugendlichen im Autismus-Spektrum arbeitet, sagt: "Menschen im Autismus-Spektrum haben genauso Gefühle wie andere Menschen auch." Aber sie könnten ihre Gefühle oftmals nicht so ausdrücken, dass sie für das Gegenüber ersichtlich seien.

Ich wusste nicht, wie ich meine Gefühle oder meine Stimmung über meine Körperoberfläche hinausbringen konnte.
Matthias Huber, Psychologe

Früher hätten die Gefühle, die Huber gespürt habe, und die Gefühle, die er nach außen transportiert habe, sehr auseinanderklaffen können. "Innerlich spürte ich zum Beispiel Freude und habe Luftsprünge gemacht in meinem Kopf. Aber nach außen wirkte ich ernst, traurig oder neutral", erinnert sich Huber. "Ich wusste nicht, wie ich meine Gefühle oder meine Stimmung über meine Körperoberfläche hinausbringen konnte."

"Es ist häufig nicht leicht, Gefühle so nach außen zu transportieren, dass andere Menschen wissen, wie es mir geht", berichtet auch Nico vom YouTube-Kanal InsideAut, auf dem der diagnostizierte Autist seine Erfahrungen rund um das Leben mit Asperger teilt. Nico beschreibt: "Es kann sein, dass ich in einer Situation beispielsweise voller Elan und Begeisterung bin, man mir das aber nicht ansieht, weil mein Gesichtsausdruck nicht transportiert, wie es in mir drin aussieht."

Eine Schwierigkeit, die auch Nicole vom YouTube-Kanal Pinkspektrum kennt. Die diagnostizierte Autistin berichtet: "Ich habe eine verringerte Gesichtsmimik. Das heißt, ich kann meine Gefühle nicht so zeigen."

Das Umfeld erkennt die Gefühle autistischer Menschen oftmals zu spät

"Wenn man die Gefühle nicht so ausdrücken kann, dass das Gegenüber weiß, worum es geht, ist man häufig sehr lange allein", erklärt Psychologe Matthias Huber. "Weil niemand merkt, dass es einem schlecht geht. Dass man Schmerzen hat. Dass man Hilfe braucht."

Huber erinnert sich an eine Situation aus seiner Jugend. Im Sportunterricht hatte er sich einen Finger gebrochen. "Da fiel mir ein Ball auf den Finger und es tat ziemlich weh." Der Lehrer habe gefragt: "Matthias, was ist denn los?" Der junge Huber sagte: "Der Ball ist mir auf den Finger geknallt." Der Lehrer: "Tut es weh?" Huber: "Ja." "Tut es sehr weh?" Wieder kam nur ein kurzes "Ja". Der Lehrer kam schließlich zu dem Ergebnis: "Komm, ist ja nichts, spiel weiter." Und daraufhin habe er tatsächlich mit gebrochenem Finger weitergespielt, berichtet Huber.

Die Gefühle autistischer Kinder werden meist erst dann erkannt, wenn das Fass zum Überlaufen voll ist.
Matthias Huber, Psychologe

Nicht-autistische Kinder würden ihre Grenzen meist schon früh kommunizieren, erklärt der Experte. Autistische Kinder dagegen wüssten häufig nicht, wie sie Schmerz und Überforderung ausdrücken könnten. Deswegen würden Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum oftmals weitermachen, bis es nicht mehr geht, meint Huber. "Die Gefühle autistischer Kinder werden meist erst dann erkannt, wenn das Fass zum Überlaufen voll ist", so der Psychologe: Wenn das Kind bereits in einer Krise sei.

Regelmäßig über ihre eigenen Grenzen zu arbeiten und zu leben – das kennt auch YouTuberin Nicole. "Ich kann meine Überforderung halt nicht immer zeigen", sagt sie: "Ich versuche dann immer, noch so lange es geht zu funktionieren und alles aufrechtzuerhalten." Bis sie zusammenbricht. Bis nichts mehr geht. Bis sie sich in einem Shutdown befindet. Das sei eine emotionale Implosion, beschreibt Nicole: "Ich breche innerlich zusammen und kann nicht mehr mit meiner Umwelt kommunizieren und mich teilweise nicht mehr bewegen." Halte dieser Zustand über eine längere Zeit an, könne er sich sogar zu einem autistischen Burnout entwickeln.

Menschen im Autismus-Spektrum üben, ihre Gefühle in neurotypische Signale zu übersetzen

Um solche Krisen zu vermeiden, hat Nicole angefangen, zu üben – zu üben, ihre Gefühle rechtzeitig und so zu kommunizieren, dass sie von ihrem neurotypischen Umfeld erkannt werden. "Ich musste das erst lernen", sagt sie. Auch YouTuber Nico erzählt: "Ich habe gelernt, meine Mimik bewusst zu kontrollieren, um meine Emotionen besser nach außen sichtbar zu machen."

Bei vielen Menschen im Autismus-Spektrum sei das mimische und gestische Zeigen von Gefühlen nicht intuitiv vorhanden, so Psychologe Matthias Huber. Zumindest nicht so, dass sie von ihrem neurotypischen Umfeld verstanden würden. Autistische Menschen müssten sich anstrengen und aktiv daran denken, ihre Gefühle der neurotypischen Norm entsprechend zu kommunizieren. "Das ist ein sehr kognitiver Vorgang", weiß der Experte aus eigener Erfahrung: "Ich habe mühsam gelernt, zu lächeln und zu nicken und die Augen weit aufzureißen, wenn ich interessiert bin, oder die Augen etwas zuzukneifen, wenn ich verärgert bin." Huber sagt: "Das musste ich wie auswendig lernen. Das war nicht intuitiv vorhanden."

Es ist mit zwei Sprachen zu vergleichen, die unterschiedlich funktionieren.
Nico, YouTuber

YouTuber Nico vergleicht die autistische und die neurotyische Ausdrucksweise von Gefühlen mit zwei Sprachen. "Es ist mit zwei Sprachen zu vergleichen, die unterschiedlich funktionieren." Er findet: "Keine von beiden ist die falsche Sprache."

Das Erlernen der emotionalen Ausdrucksweise von neurotypischen Menschen sei für Autist*innen wie das Lernen einer Fremdsprache, findet Nico: "Das kostet sehr viel Energie." Deswegen wünscht er sich, dass auch neurotypische Menschen die Sprache von Autist*innen erlernen würden: "Mein Wunsch wäre, dass neurotypische Menschen nicht nur verlangen, dass wir uns an ihre kommunikativen Regeln anpassen müssen, sondern dass auch sie uns ein bisschen entgegenkommen." Auch der Psychologe Matthias Huber findet: "Es reicht nicht, nur der einen Seite zu erklären, wie die andere funktioniert." Der Experte betont: "Beide Seiten brauchen das Wissen über den*die jeweils andere*n."

Wie also kann die neurotypische Seite dazu beitragen, dass die Kommunikation über Gefühle zwischen autistischen und nicht-autistischen Menschen gelingt? Wichtig sei es, nicht alles in der Mimik ablesen zu wollen, findet YouTuberin Nicole. Ein guter Indikator dafür, ob es einem autistischen Menschen gut gehe, sei nicht unbedingt seine*ihre Mimik, sondern könnten zum Beispiel seine*ihre Spezialinteressen sein, sagt sie: "Wenn du mich gut kennst, dann weißt du, was meine Spezialinteressen sind. Wenn ich aufhöre, mich mit diesen zu beschäftigen, dann könnte das ein Zeichen sein, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist."

Die Gefühle anderer Menschen können für mich so stark sein, dass ich sie unbewusst auf mich übertrage.
Nico, YouTuber

"Entgegen vieler Vorurteile haben Autist*innen natürlich auch Mitgefühl", sagt YouTuber Nico. Manchmal sei sein Mitgefühl sogar so stark ausgeprägt, sagt er, dass es ihn überfordern würde: "Die Gefühle anderer Menschen können für mich so stark sein, dass ich sie unbewusst auf mich übertrage. Ist zum Beispiel jemand schlecht gelaunt, kann es passieren, dass ich auf einmal auch schlecht gelaunt bin, obwohl ich vorher gut drauf war." Psychologe Matthias Huber bestätigt, "dass es für Menschen im Autismus-Spektrum manchmal schwierig ist, zwischen dem Innen und Außen zu unterscheiden".

Die Gefühle anderer können autistische Menschen überschwemmen

Sei die Umgebung emotional zu überschwänglich, würden sich autistische Menschen schnell überschwemmt fühlen von den Emotionen. Die Gefühle der anderen seien für den*die Autist*in dann wie ein chaotisches und undifferenziertes Rauschen. Huber erinnert sich an seine Kindheit und Jugend: "Wenn Menschen zu überschwänglich reagierten, dann war ich total überfordert – das war wie eine emotionale Überschwemmung. Ich konnte diese Gefühle nicht auseinanderhalten und ich hatte im Gehirn keine Schubladen, wo ich die unterschiedlichen Gefühle hätte einsortieren können. Das war mir dann einfach zu viel."

Deswegen sei es hilfreich, eher wenig Emotion und Ausdruck in die Sätze zu legen, wenn man mit einer autistischen Person kommuniziere, meint Huber. Außerdem sei es nützlich, zu verbalisieren, wie man sich gerade fühle. "Es kann unter Umständen helfen, wenn man als neurotypischer Mensch einfach sagt, wie man sich fühlt. Und nicht davon ausgeht, dass das autistische Gegenüber das schon erkennt", so der Psychologe. "Meine Mutter hat sehr früh gemerkt, dass sie laut denken muss, wie sie sich fühlt, weil ich das sonst nicht intuitiv erkannt hätte", erinnert er sich.

Autist*innen sollten nicht nach neurotypischen Maßstäben beurteilt werden

"Wenn man ein autistisches Kind oder einen autistischen Menschen so interpretiert, wie man das sonst bei neurotypischen Menschen tut, dann kommt es zu vielen Fehleinschätzungen und Enttäuschungen", so Psychologe Huber. Das Allerwichtigste in der emotionalen Kommunikation mit autistischen Menschen sei es, sie nicht nach neurotypischen Maßstäben zu beurteilen, findet er.

Wenn man einem*r Autist*in zum Beispiel sagen würde, dass man traurig sei, könne es passieren, dass man nicht unbedingt eine lange und feste Umarmung bekomme, sondern viele produktive Lösungsvorschläge, wie die Situation zu verbessern wäre, erzählt YouTuberin Nicole: "Wenn ein*e Freund*in traurig oder in einer Krise ist, neige ich dazu, Lösungen aufzuzeigen, wie er*sie die Situation verbessern kann oder da rauskommen kann. Ich schaue dann eben aktiv: Wie kann es ihm*ihr besser gehen?" Aber diese Lösungsorientiertheit autistischer Menschen sei ja auch eine Qualität, findet Nicole.

YouTuber Nico ist sich sicher: Wenn beide Seiten – die neurotypische und die autistische – sich bewusst machen, dass sie unterschiedlich kommunizieren, gerade auch in Bezug auf Gefühle, und die Unterschiedlichkeit als Qualität anerkennen, dann kann es zwischen Autist*innen und Neurotypist*innen funktionieren.