Lange hatte sie auf den Moment gewartet, seit Monaten stand sie auf der Warteliste für den Platz. Eine tiefenpsychologisch fundierte Therapie wollte Nora Fieling machen. Als es aber endlich soweit ist, empfindet sie vor allem eines: Angst. Und sie ist kurz davor, ihre erste Sitzung abzusagen.

"Ich möchte so vieles und habe Angst vor dem Weg, der mich da hinführt. Ich habe Angst vor den verborgenen Gefühlen in mir. Angst, dass sie mich überfluten und lähmen. Angst, dass ich in mir selbst versinke und alles um mich herum schwarz wird. Angst, dass ich in eine erneute depressive Phase rutsche. Angst, dass ich das alles nicht aushalten kann." So schreibt Nora von der Erfahrung damals in ihrem Blog.

Jetzt, fünf Jahre später, hat die 35-Jährige ihre Therapie abgeschlossen und die meisten ihrer Ängste überwunden. Oder einen Weg gefunden, mit ihnen umzugehen. Sie weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist. Sie weiß aber auch, dass man es schaffen kann. Auch wenn die Angst vor der ersten Sitzung anfangs unüberwindbar schien, heute ist sie froh, hingegangen zu sein.

Nora hatte schon früh Kontakt zum Thema Therapie

Dabei war es nicht Noras erste Therapie: Mit 18 Jahren entdeckte ihre Hausärztin die Narben an Noras Arm. Sie schickte sie zu einer Psychiaterin, und die wiederum zum Psychotherapeuten. Und obwohl Nora dort schon Therapieerfahrungen machte, kam einige Jahre später, vor der tiefenpsychologisch fundierten Therapie, die Angst zurück. Es hatten sich neue Baustellen aufgetan, auch alten wollte sie noch mal den Grund gehen. Sich den damit verbundenen Gefühlen zu stellen, fiel ihr schwer. "Ich merkte in meiner Kindheit schon: Ich bin anders als die anderen. Aber damals gab es bei uns zu Hause kein Internet, ich hatte quasi keine Möglichkeit, mich zu informieren und hatte in meiner Familie niemanden, mit dem*der ich über meine Gedanken sprechen konnte", sagt Nora. In Büchereien stieß sie zum ersten Mal auf Bücher, in denen es um Depression und Suizidalität ging.

Die Akzeptanz dessen, wer ich bin, mit meinen Gedanken und Gefühlen, war ein wesentlicher Baustein dafür, meine Angst zu überwinden.
Nora Fieling, Erfahrungsexpertin

"Die Menschen, die darin von ihren Erfahrungen berichteten, hatten alle so krasse Geschichten von Missbrauch, Vergewaltigung, Entführung. Das hatte ich ja alles gar nicht erlebt." Es war ein Gedanke, den Nora mit in ihre erste Therapie nahm. Warum brauche ich eine Therapie? Wieso darf ich die machen, wenn ich diese krassen Dinge nicht erlebt habe?

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Als sie später nach Berlin zog, fand sie lange keinen Therapieplatz. Irgendwann verließ sie der Mut. Bis die Panikattacken im Sommer 2009 überhandnahmen und Nora ihre Wohnung mehrere Wochen kaum noch verließ. Sie wies sich daraufhin selbst in eine Psychiatrie ein. "Obwohl ich riesige Angst davor hatte: Was sagen meine Mitbewohner*innen? Was sagt mein Partner?" Sie wusste aber auch: Es geht nicht anders. Am Ende waren es vor allem ihr Partner, der ihr beistand und sie unterstützte, mit der Angst umzugehen. "Die Akzeptanz dessen, wer ich bin, mit meinen Gedanken und Gefühlen, war ein wesentlicher Baustein dafür, meine Angst zu überwinden", sagt sie heute.

Ihren Blog startete Nora anonym, der Name Nora Fieling ist ein Pseudonym, mit dem sie bis heute noch arbeitet. Erst seit eineinhalb Jahren zeigt sie ihr Gesicht und steht zu sich und ihrer Geschichte. Es hat ihr sehr geholfen, ihre Gefühle aufzuschreiben und sie zu teilen, mit Unbekannten, aber vor allem mit sich selbst. "Das, was die Menschen um dich herum sagen, ist das eine. Die lange Therapieplatzsuche das andere. Was für mich wichtig ist: Der eigene Umgang mit meinen Gefühlen. Mir zuzugestehen, traurig, wütend und hilfsbedürftig zu sein", so die 35-Jährige.

Gerade für junge Menschen können Therapie-Influencer*innen erste Berührungspunkte darstellen

Auch die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Myriam Gelder weiß: Der Austausch mit anderen kann helfen: "Gerade bei Jugendlichen spielt eine große Rolle: Was halten die anderen von mir? Wenn sie andere in ihrem Freund*innenkreis haben, die schon gute Erfahrungen mit Psychotherapien hatten, dann kommen sie häufiger von selbst." Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Therapie-Influencer*innen, die sich über Instagram oder andere soziale Medien zu ihrer Erkrankung bekennen und Aufklärung bieten wollen. Gelder beobachtet, dass das hilfreich sein kann. "Ich weiß von Patient*innen, dass sie gerade auf Instagram und YouTube nach solchen Themen suchen."

Die 33-Jährige hat fünf Jahre lang in einer ambulanten Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet, bevor sie nun in Fürstenfeldbruck, in der Nähe von München, ihre eigene Praxis eröffnet. Zumindest in ihrer ehemaligen Anstellung war sie bei den meisten jungen Menschen der erste Therapiekontakt. "Und zwar, weil ihre Eltern sie zu uns brachten. Vorne stand Psychiatrie auf dem Klingelschild – das macht vielen Angst. Das größte Problem ist meist das Stigma." Hilfe zu suchen und anzunehmen, das sei schwierig, wenn Psychotherapien im Umfeld kein Thema sind. Myriam Gelder sagt, man müsse deshalb ein Gefühl von Normalität vermitteln. Vertrauen sei wichtig, ihre Patient*innen müssen sich bei ihr wohlfühlen. Die Therapeutin hat dafür eine Geheimwaffe: "Meinen Therapiehund Cookie. Der nimmt viele Ängste und ist oft einer der Gründe, warum Menschen wiederkommen", sagt sie lachend.

Ihr gebt die Kontrolle nicht ab, wenn ihr eine Therapie macht. Ihr könnt es jederzeit wieder sein lassen.
Evangelos Evangelou, Psychotherapeutische und Psychosoziale Beratungsstelle

Evangelos Evangelou kennt all die Ängste, die Nora Fieling damals vor der therapeutischen Behandlung hatte. Er ist Leiter der Psychotherapeutischen und Psychosozialen Beratungsstelle des Studierendenwerks München und zuständig für mehr als 100.000 Student*innen, die an den 15 Hochschulen im Umkreis studieren. "Zu uns kommen junge Menschen, die in der Regel keine Therapieerfahrung haben", erzählt Evangelou. "Die Schwelle ist für viele von ihnen niedriger. Während der Beginn einer Therapie für einige leider bedeutet, sich selbst für unselbstständig oder verrückt zu erklären, kommen sie zunächst oft zu uns, weil sie die Probleme im Studium als Beratungsanlass besser annehmen können."

Es gibt, bemerkt er, noch viele offene Fragen, was das Thema Psychotherapie angeht. Das fehlende Wissen kann Angst auslösen. Wenn Student*innen Evangelos Evangelou von solchen Ängsten berichten, sagt er ihnen vor allem eins: "Ihr gebt die Kontrolle nicht ab, wenn ihr eine Therapie macht. Ihr könnt es jederzeit wieder sein lassen, wenn es zu anstrengend wird oder ihr keine Lust mehr habt. Ich sage ihnen auch: All die Ängste, die ihr habt, dürft ihr mit zum*zur Therapeut*in nehmen. Ihr müsst das nicht schon vor dem ersten Termin überwinden."

Ein weiteres Problem, mit dem die Beratungsstelle des Studierendenwerks zu tun hat: Kulturelle Unterschiede. Student*innen an den Münchner Hochschulen kommen aus allen Teilen der Welt. "In Deutschland haftet dem Thema Psychotherapie nach wie vor ein Stigma an, aber es ist schon stückweise abgebaut", sagt Evangelou. "Wir haben aber auch immer wieder Student*innen bei uns, in deren Heimatländern über psychische Probleme einfach nicht gesprochen wird – geschweige denn über Therapie." Für diese Student*innen ist es eine zusätzliche Überwindung, in einer fremden Sprache über ihre innersten Probleme zu sprechen. Und mit Psycholog*innen, die ihre Kultur vielleicht nicht kennen. Psychotherapien in Deutschland, sagt der Leiter der Beratungsstelle, müssten inklusiver für andere kulturelle Hintergründe werden.

Alle, die ihre Therapie blöd oder albern fanden, hat Nora aus ihrem Leben entfernt

Die Angst vor der Therapie – in ihrem Blogeintrag von damals hatte Nora Fieling sie mit einer Wurzelbehandlung verglichen. Heute findet sie den Vergleich mit einem Besuch bei dem*der Frauenärzt*in passender. "Man fühlt sich ausgeliefert, muss sich von einer weitestgehend fremden Person emotional berühren lassen." Es war das Gefühl, das der Gedanke an eine Therapie bei ihr auslöste: Ein Mensch, der ihr intimstes privates Innenleben berührt. Aber am Ende war, wie schon bei ihrer Einweisung in die Psychiatrie einige Jahre zuvor, der Leidensdruck höher als die Angst vor der Therapie.

Die Therapie hat Nora geholfen, ihre Ängste selbst zu überwinden. Dadurch, dass sie ihre Ängste nach und nach bei der Therapeutin und auch bei ihrem Psychiater ansprach. "Dieses Vertrauensverhältnis muss meiner Meinung nach auch bestehen. Eine Therapie bei jemandem zu machen, bei dem*der man sich unwohl fühlt, kann man eigentlich gleich vergessen – so zumindest meine Erfahrung", sagt sie. Was sie außerdem als hilfreich empfand: sich gegenüber ihrem sozialem Umfeld zu ändern. "Ich habe mich Stück für Stück vielen Freund*innen geöffnet", erzählt sie. Manche blieben in ihrem Freund*innenkreis, andere gingen.

Auch von ihren Eltern hat sie sich getrennt. Das sei natürlich nicht leicht gewesen, war für Nora aber ein wesentlicher Schritt ihrer Genesung. Ihre Erfahrung: Je mehr sie sich öffnete, desto mehr haben sich auch andere geöffnet. Auch Selbsthilfegruppen und der Austausch mit anderen Erkrankten haben der 35-Jährigen dabei geholfen, sich selbst zu akzeptieren. "Unter vielen Leuten, die sich anders und komisch fühlen, bist du eigentlich gar nicht mehr anders und komisch. Das fühlt sich gut an." Es ist ein Prozess der Entstigmatisierung, den sich Nora für die gesamte Gesellschaft wünscht.

Heute berät Nora andere dabei, ihre Zweifel zu überwinden und einen Therapieplatz zu suchen. Sie macht sogenannte Peer-Beratung. Ihr Mantra für alle, die aus welchen Gründen auch immer Angst vor einer Therapie empfinden: "Gebt der Angst Platz. Hört ihr zu, lasst sie da sein, redet sie nicht weg. Es hat einen Grund, weshalb sie da ist und das darf sie auch sein. Ein Annehmen der Gefühle tut durchaus weh, hilft aber oftmals mehr, als sie abzuwerten oder zu verdrängen. Und macht euch klar: Ihr seid würdige Menschen, die Hilfe in Anspruch nehmen dürfen."

Hilfe holen

Falls du unter Depressionen leidest und dich Suizidgedanken plagen, findest du bei der Telefonseelsorge online oder telefonisch unter den kostenlosen Hotlines 0800 1110111 und 0800 1110222 rund um die Uhr Hilfe. Du kannst dich dort anonym und vertraulich beraten lassen. Angehörige, die eine nahestehende Person durch Suizid verloren haben, können sich an den AGUS-Verein wenden. Der Verein bietet Beratung und Informationen an und organisiert bundesweite Selbsthilfegruppen.

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