Auf einmal fiel das Atmen schwer. Die Strecke kannte er, und in der Regel war er gut darin, eine Geschwindigkeit zu halten. Aber als Robin an diesem Sommertag mit Freunden joggen war, sagte ihm sein Körper: Hier stimmt was nicht.

Plötzlich konnte er nicht mehr. Zuerst machte er noch Witze über seinen Leistungsabfall, lachte mit seinen Freund*innen darüber. Sicher nur Eisenmangel. Erst beim Hausarzt holte Robin die Realität ein. Seine Blutwerte waren allesamt im Keller. Er wurde ins regionale Krankenhaus geschickt und von dort aus ins nächste Universitätsklinikum. Dann die Diagnose: schwere Aplastische Anämie.

Das Knochenmark in seinem Körper war auf einmal nicht mehr in der Lage, selbstständig Blutzellen zu bilden. Das aber ist eine überlebenswichtige Funktion. Keine Blutzellen, kein Leben. Robin, zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt, war gezwungen, sich eine Frage zu stellen, die den meisten Menschen nicht einmal in den Sinn kommt: Wie stehen meine Chancen weiterzuleben?

"Draußen lauert der Tod"

Die Krankheit lässt sich zwar medikamentös behandeln, doch das würde ein Leben mit ständigen Transfusionen und Medikamenten bedeuten. Jungen Menschen wird in aller Regel zu einer Stammzelltransplantation geraten. Dann besteht die Chance, irgendwann wieder ein normales Leben führen zu können. Nach einer Transplantation des Knochenmarks läge Robins Überlebenschance bei 85 Prozent, sagte man ihm. Immerhin eine Chance, dachte er sich – und entschied sich für diese Option. Im November 2016 bekam er das Knochenmark transplantiert.

"Das war eine ekelhafte Risikoabwägung damals", erzählt Robin über Skype. Der heute 27-Jährige ist seit Wochen stationär im Krankenhaus. Es ist nicht das erste und vermutlich auch nicht das letzte Mal. Er hat ein Einzelzimmer mit TV, Playstation und Internet. Über dem Stuhl hängt Sportkleidung, über dem Infusionsständer seine Caps. Die Fenster sind geschlossen. "Draußen lauert der Tod", sagt Robin theatralisch. Es soll ein Scherz sein, doch gleichzeitig entspricht es der Wahrheit.

Robins Immunsystem ist schwach. So schwach, dass er schon mal sechs Wochen im Krankenhaus liegen muss – wegen einer Infektion, die sich der Großteil aller Menschen in Deutschland gar nicht erst einfangen würde. In den ersten Wochen nach der Transplantation feierte er seinen Geburtstag in Isolation, seine Familie und seine Freund*innen durften ihn nur mit Mundschutz besuchen. Das ist heute, etwas über ein Jahr nach der Operation, anders. Ein offenes Fenster könnte für Robin aber weiterhin lebensgefährlich sein.

Wer neue Stammzellen bekommen hat, etwa durch eine Knochenmarktransplantation, dessen Immunsystem startet neu. Der Körper muss erst wieder Abwehrkräfte bilden, fast wie nach der Geburt. Man ist überempfindlich, auch für Langzeitkomplikationen, weshalb Patient*innen meist eine lange Phase der Nachsorge durchleben.

Von einer Million Menschen wird pro Jahr im europäischen Raum nur etwa bei zwei bis drei Menschen eine Aplastische Anämie diagnostiziert. Die Krankheit ist damit so selten, dass die meisten Menschen im Medizinwesen während ihrer gesamten Arbeitszeit nie mit ihr konfrontiert werden. Anders ist das mit der Stammzelltransplantation. Diese wird in Deutschland jährlich etwa 3.000 Mal durchgeführt, häufig bei Leukämiepatient*innen.

Die Tür springt auf, ein Pfleger kommt herein und erkundigt sich nach Robins Wohlbefinden. Auch das gehört nun zu seinem Leben: Er steht unter ständiger Beobachtung. Der Infusionsständer wurde zu einem dauerhaften stillen Begleiter, das Krankenhaus und seine Gesichter kennt er mittlerweile auswendig. Etwa 60 Tage verbrachte er 2017 dort. Die Ursache für seine Aplastische Anämie kennt Robin nicht. Fachleute können darüber nur mutmaßen, meist schlummert der Auslöser im Erbgut.

Im Gesundheitssabbatical

Vor der Diagnose studierte Robin Jura, war in einer Anwaltskanzlei tätig und bereitete sich auf sein Referendariat vor. Sein Berufsleben ist bis auf Weiteres pausiert, wie Robin es nennt. Ob und wann seine berufliche Karriere weitergeht, steht in den Sternen, zumindest aber so lange, wie es ihm nicht möglich ist, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, ohne die Sorge, sich eine lebensgefährliche Infektion einzufangen. Bis sich ein Immunsystem wieder ganz aufgebaut hat, kann es Jahre dauern. "Damit muss ich mich abfinden", sagt Robin, der seit der Transplantation einen Schwerbehindertenausweis hat.

Auch sonst muss er viele Abstriche machen, wie etwa beim Essen. Er muss darauf achten, sich so keimreduziert wie möglich zu ernähren. Das führt teilweise zu absurden Szenen: Robin bat im Restaurant einmal darum, das Steak ganz durchgebraten zu bekommen, bekam es aber noch leicht roh. Er erklärte dem Kellner, dass er es durch brauche, aus gesundheitlichen Gründen. Zurück kam das Steak wieder leicht rosa – zusammen mit der Erklärung des Kellners, der Koch weigere sich, das Fleisch ganz durchzubraten.

Wenn er gerade nicht im Krankenhaus ist, hangelt Robin sich von Arztbesuch zu Arztbesuch. Die ganze Facharztpalette habe er schon einmal durch, sagt er schmunzelnd. Er lebt bei seinen Eltern. Einmal musste er für eine Woche bei seiner Schwester schlafen, weil sie erkältet waren.

Jetzt wird erst mal am Leben geblieben." - Robin

Robins innerer Fokus habe sich gewaltig verschoben. "Man plant nicht mehr bis unendlich, gerade jobmäßig. Ich sagte mir irgendwann: 'Jetzt wird erst mal am Leben geblieben'", sagt Robin und lacht kurz auf. An guten Tagen redet er sich ein, er mache eben gerade ein Gesundheitssabbatical.

Im Bekanntenkreis werde ihm ab und an vorgeworfen, er ginge zu leichtfertig mit seiner Krankheit um, nehme sie und den Tod nicht ernst genug. Tatsächlich aber gab der schwarze Humor dem begeisterten Läufer oft die nötige Kraft, nicht daran zu zerbrechen, wenn er mal wieder die Treppen nicht hochkam, weil seine Beine zu schwach wurden.

Was bleibe einem in solch einem Zustand schon anderes übrig, als zuversichtlich zu sein, fragt Robin ins Leere und hält inne. "Trotzdem: Der Spruch 'ich lasse mein Leben nicht von meiner Krankheit bestimmen' ist großer Quatsch", sagt er. "Die Krankheit bestimmt ja mein Leben."

Vom Kampf für ein bisschen Normalität

Seit eineinhalb Jahren hat Robin weder den Griff eines Einkaufwagens berührt, noch einen Aufzugknopf betätigt. Er verzichtet oft auf Rückgeld, wenn es Münzen sind. Er muss sich dazu zwingen, keine Hände mehr zu schütteln. "Das ist nicht leicht, ohne gleich unverschämt zu wirken, insbesondere vor Fremden", sagt er. Anfangs setzte ihn das noch sehr unter Druck. Doch die Gefahr ist zu groß, also legte er sich Standardsätze bereit, die er in solchen Situationen sagen kann.

Fragt man ihn, ob er das Gefühl habe, ständig gegen seine Krankheit ankämpfen zu müssen, antwortet Robin, er kämpfe eher ständig um Normalität. "Es gelingt mir gut, das Beste daraus zu machen", sagt er mit Blick aus dem geschlossenen Fenster.

Robin freut sich mittlerweile viel mehr über vermeintliche Kleinigkeiten, wenn er etwa Silvester feiern kann, obgleich nur in kleiner Runde, erzählt er. Er freut sich über neue Videospiele oder Serien, weil er gerne darüber diskutiert – und seine Krankheit dann einmal nicht Thema ist.

In wenigen Tagen soll Robin entlassen werden. Trotz der Krankheit und der Handicaps zerfließt er nicht in Selbstmitleid. "Stattdessen gehe ich lieber joggen und hole mir die Kontrolle über meinen Körper zurück", sagt er.

Robin möchte irgendwann wieder so schnell laufen können wie vorher. Und seine Geschwindigkeit halten.