Roza*, 23, legt sich in Kampfposition. Zuvor streift sie blaues Plastik über die Schuhe und legt ihr Gesicht unter eine weiße Maske. Roza ist nicht zu erkennen. Bereit zum Angriff. Sie fährt nach oben, dann nach hinten. Rozas Konfliktzone: der eigene Körper. Sie lässt ihn bestrahlen.

Wochenlang wuchs ein Tumor in Rozas Gehirn, streute, nistete sich ein. Rozas Kampf sieht niemand, er findet im Inneren statt. Zuletzt war der Tumor 4,8 Zentimeter lang. Etwa so groß wie eine Streichholzschachtel. Roza ist einer von rund 8.000 Menschen, die nach Angaben des Vereins Deutsche Hirntumorhilfe jährlich an einem Hirntumor erkranken.

Erstmals bemerkbar machte sich Rozas Tumor im Februar dieses Jahres: Sie steht in ihrer Küche im Berliner Bezirk Reinickendorf und will Tee kochen. Zuerst zittert ihr linker Arm, dann verliert sie das Bewusstsein. Sie hat einen epileptischen Anfall. Weitere Symptome sind Übelkeit und Kopfschmerz. Doch wer ahnt bei Kopfschmerz einen Hirntumor?

Rozas erste Kampfansage ist eine unbewusste: Sie steht vom Küchenboden auf, legt sich ins Bett und ruft die Mutter an. Die betet und fastet. Der Bruder zürnt. "Meine Familie übernimmt das Emotionale für mich", sagt Roza. Sie ist im Kampf gegen den Körper Strategin, behält den Überblick. Das passt zu ihr. Auch sonst ist sie meist zehn Minuten zu früh. In der Uni weiß sie viel und meldet sich kaum.

Der Tumor beeinflusst Rozas gesamten Körper. Zwar entfernen Neurochirurg*innen etwa 90 Prozent. Doch die Nervenzellen in Rozas Hirn gewöhnten sich an den Tumor. Ohne Streichholzschachtel im Kopf gerät vieles durcheinander. Nach der Operation ist ihre linke Körperhälfte gelähmt. Zehn Tage liegt sie. Ihre Füße verlieren Muskelkraft und der Rücken schmerzt.

Der Feind tarnt sich

Roza steht in einem Altbau in Reinickendorf und hebt einen Ball hoch. "Es ist schwer", sagt sie und schnauft. Auch das gehört zu ihrem Kampf: Physiotherapie. In 50 Minuten schwingt sie einen Hula-Hoop-Reifen, balanciert kniend auf einem Board, kreist einen Tennisball mit den Füßen, während sie sich – mit links – an einer Sprossenwand hält. "Ich weiß jetzt, wie alte Menschen sich fühlen", sagt Roza und lacht. Sie fühlt sich oft schwach.

Der Tumor in Rozas Hirn ist ein anaplastisches Astrozytom. Ein bösartiger Tumor, der schnell in gesundes Gewebe wächst. Die Grenzen sind unscharf. Der Feind tarnt sich. Deshalb weiß man bei den letzten zehn Prozent Tumor nicht: Was ist tödlich? Was dient dem Körper? Chemo- und Strahlentherapie vernichten den Rest. Bei Roza wuchs das anaplastische Astrozytom in der SMA-Region, die Bewegung auslöst und steuert.

"Ich hasse es, etwas zu verlieren", sagt Roza und läuft durch ihr Zimmer. "Wo habe ich meine Liegebescheinigung?" Auf dem Schreibtisch liegt neben dem Laptop mit Netflix-Serie Bates Motel und VWL-Notizen ein Ordner mit Informationen der Charité. Roza heftet alles ab. "Ach, hier ist sie." Auf dem Nachttisch findet sie, was sie sucht. "Mein Job ist es, krank zu sein", sagt sie.

Während Roza bestrahlt wird, telefoniert eine Krankenpflegerin. Sie erwähnt eines immer wieder: "ganz junge Patientin". Tumore, die im Hirn entstehen, sind rar. Vier- bis sechsmal häufiger sind Tumore im Hirn die Folge eines anderen Krebses. Auch Rozas Tumor wird wiederkommen: "Bei bösartigen Hirntumoren liegt die Wahrscheinlichkeit bei nahezu 100 Prozent", sagt ihre Neurochirurgin.

"It’s boring and frustrating." Die Roboter-Expertin Simone Giertz spricht auf Youtube über die Rückkehr ihres Hirntumors.

Frontaler Angriff

Roza wirkt sehr stark. Ist das echt? Unterdrückt sie Gefühle? Ihr Bruder sagt, dass sich Roza noch nicht mit der Rückkehr des Krebses beschäftige. Doch sie weiß es. Roza sagt oft, dass sie nicht emotional sei. Vielleicht wäre das zu viel: ein Kampf mit dem Körper, ein anderer mit den Gefühlen.

Beim Verein der Deutschen Hirntumorhilfe informieren sich viele Angehörige. Der Verein setzt sich für die Interessen von Hirntumorpatient*innen ein und initiiert seit 20 Jahren den Welthirntumortag. "Zwei Prozent aller Krebsarten sind Gehirntumore. Davon wiederum gibt es 150 verschiedene Arten", sagt der Vereinsvorsitzende, der nicht namentlich genannt werden will. "Jede Hirntumorart ist selten. Bei uns kann man sich orientieren."

Es ist Mitte April, Roza sitzt in einem Café namens Really Good Life. Anastacia wird gespielt: "And I wonder if you know / How it really feels." Alles wirkt zynisch. Bis Roza redet. Sie nippt an ihrem Berrylicious Shake und sagt, dass sie die Musik mag, sie fühle sich wieder wie als Kind. Am Tag zuvor endete die Strahlentherapie, sie spricht darüber. als wäre es ein bestandener Unikurs. Im März überlegte sie noch, die Therapie zu verschieben, denn eine Strahlenbehandlung verringert die Chance, Kinder bekommen zu können. Ihr wurde gesagt, dass die Chance, schwanger zu werden, um 20 Prozent sinke. Bleiben 80 Prozent. Sie sagt: "Da nehme ich die 80 Prozent." Sie setzt frontal auf Angriff. Ohne Umwege.

Im Mai erfährt Roza, dass ihre Blutwerte schlecht sind. Sie muss jeden Tag zur Entnahme, dadurch verschiebt sich ihre zweite Chemotherapie auf Juni. Bei WhatsApp schickt sie Emojis mit Herzen in den Augen, als sie davon spricht, bald nur noch einmal die Woche zur Blutentnahme zu gehen.

Roza ist Königin im Kampf, Schiller hätte ein Drama daraus gemacht. Spricht man sie auf ihre Kraft an, zuckt sie mit den Schultern: "Was soll ich machen? Ich kann den Tumor nicht wegheulen."

*Name geändert