Etwa zwei Mal die Woche sitze ich zwischen 500 anderen Menschen auf klapprigen Holzstühlen in einem riesigen Saal und fühle mich: dumm. Zwischen all den Menschen mit Hornbrillen und Laptop, die engagiert in die Tasten hauen – und garantiert nicht nur zwei Mal die Woche hier sitzen. Das sind Studierende, die bestimmt mit sechs Jahren schon Harry Potter auf Englisch gelesen haben; oder mit ihren Eltern beim Abendbrot über seltene Fischarten sprachen.

Der Professor fragt zum Beispiel, welche Meinung wir zum Thema "Volksabstimmungen" haben. Ein paar Hände schießen in die Höhe. Ich selbst kann mich nicht daran erinnern, je etwas in einem Hörsaal gefragt zu haben, geschweige denn gesagt.

Ich bin hin und her gerissen. Zwischen dem Gefühl von Stolz, einer dieser Studierenden zu sein – und der Angst, der ganzen Studiererei nicht gewachsen zu sein. Denn alles, was der Professor da unten in sein Mikro spricht, mag hochinteressant sein. In meinem Kopf kommt allerdings erstmal nicht viel an: Kauderwelsch. Buchstabensalat. Singsang. Beeeeeeeeep. Alle anderen scheinen den Kauderwelsch besser zu verstehen. Und sogar weiterdenken zu können. Diese Vergleiche, Gedanken, Zweifel und Ängste produzieren Stress. Ein grausames Gefühl.

Laut einer Umfrage der Techniker Krankenkasse unter 1.000 Studierenden von 2013 fühlen sich 44 Prozent der Studierenden in Deutschland durch Stress erschöpft. In einer aktuelleren Befragung gab mehr als ein Viertel der Studierende an, dass sie sich während des Studiums schon mal derart gestresst fühlten, dass sie sich auch mit Ausgleichsmaßnahmen wie Sport oder Ausgehen nicht mehr helfen konnten. Jeder Fünfte hat eine diagnostizierte psychische Störung – dazu gehören Depressionen, psychosomatische Erkrankungen, Anpassungs- und Belastungsstörungen oder Angsterkrankungen.

Was stresst die Studierenden an der Uni?

Die Umfrage der Techniker Krankenkasse sagt, es seien vor allem die Prüfungen, die den Studierenden zusetzen. Ich gehöre allerdings zu den Geisteswissenschaftler*innen und bin einer derjenigen, die selten büffeln müssen. Der Umfrage nach sind Geisteswissenschaftler*innen allerdings stärker gestresst als Naturwissenschaftler*innen, welche in der Regel ständig für Tests und Klausuren pauken müssen. Warum das Paradoxon?

Auf meiner Suche nach dem Grund meines Unwohlseins und meiner Selbstzweifel fand ich heraus, dass das Lernpensum nicht der alleinige Grund für den Stress sein könnte: Ich stieß auf den Begriff "Uni-Bluff".

Ein Phänomen, das der Sozialwissenschaftler Wolf Wagner benannte. Er widmete dem ein ganzes Buch. In der Uni zu "bluffen" heißt: sich selbst vermarkten zu können; sich schlauer geben, als man eigentlich ist. Wagner behauptet, dass ein Großteil der Studierenden und Wissenschaftler*innen ständig blufft.

In seinem Buch schreibt er: "Es ist diese subtile Form des Bluffs, um die es beim Uni-Bluffs geht. Wie beim Pokern ein etwas unsicheres Blatt besser erscheinen soll, als es tatsächlich ist, so gibt sich der Wissenschafter, die Wissenschaftlerin ein wenig besser, klüger, belesener, kundiger und tiefgründiger, als er oder sie tatsächlich ist. (...) Es geht also normalerweise um gewohnheitsmäßiges Imponiergehabe, selten um Hochstapelei."

Wagner beschreibt den universitären Raum als einen, der von hochgestochener Sprache und übertriebener Selbstdarstellung geprägt ist – zum Leiden von Neulingen oder denjenigen, die den Uni-Bluff noch nicht durchschaut haben. Diese fallen nämlich gerne auf ihn rein und fühlen sich dadurch minderwertig oder dem Uni-Leben nicht gewachsen. Die "gestörte Kommunikation" wird vor allem durch geschickte Wortwahl beherrscht.

Einfach gesagt: Es wird so viel geredet, mit Fachwörtern um sich geschmissen und geflunkert bis jemand heult.

Soll ich jetzt mitbluffen?

Es kann natürlich in die Hose gehen, wenn man im Seminar behauptet "beim Philosophen XY gelesen zu haben, dass ...". Wagner meint jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit dafür sehr gering sei, wenn der Studierende sich geschickt anstellt. Der Uni-Bluff braucht Übung und Zeit. Einfache Möglichkeiten sind zum Beispiel, Sätze mit "Empirische Studien in den USA bewiesen, dass.." einzuleiten oder die Sätze bis relativierenden Floskeln ("im Allgemeinen, häufig, oft") zu bestücken.

Um sich im Bluff zu üben, rät Wagner im Interview mit Zeit Online: "Tragen Sie zum Beispiel Ihre Argumente zögerlich, in einem suchenden, leicht gelangweilten Ton vor, als ob Sie sie aus einer riesigen Wissensmenge zusammenstellen müssten. Bereiten Sie aus dem Text, der für die nächste Seminarsitzung aufgegeben ist, die schwierigste Stelle vor. Stellen Sie dann eine Frage wie 'Ich habe das nicht genau verstanden – könnte es vielleicht sein, dass…' – und präsentieren Sie dann die richtige Antwort. Streuen Sie in Ihre Arbeiten exotische Fremdwörter und berühmte Namen ein. Drücken Sie sich kompliziert aus."

Doch sollte der Uni-Bluff die Lösung sein? Mit Bluff auf Bluff zu antworten, erscheint für mich nicht gerade konstruktiv und entgegenkommend für all die Erstis, denen es genauso geht wie mir am Anfang meines Studiums. Und auch wenn ich wollen würde: Bluffen ist nicht meine Stärke. Denn erstens bin ich dafür eine viel zu schlechte Lügnerin. Und zweitens habe ich dazu viel zu sehr Angst, erwischt zu werden. Doch im Endeffekt war es allein das Bewusstsein und der Radar für den Uni-Bluff, der mir meine Angst nahm und meinen Uni-Alltag letztlich erleichterte.

Wenn ich jetzt im Hörsaal sitze, weiß ich: Die ganzen Studierenden mit Hornbrille und Laptop, die ihre Hände regelmäßig in die Luft strecken, haben vermutlich ähnliche Ängste wie ich, aber sie sind besser im Bluffen.