Wie heilsam Schreiben sein kann, merkte der Psychologieprofessor James Pennebaker von der University of Texas erst, als er selbst in einer Lebenskrise steckte. Wie das Nymag schreibt, heiratete Pennebaker früh. Nach drei Jahren Ehe begannen seine Frau und er an der Beziehung zu zweifeln und Pennebaker wurde depressiv. Er begann zu rauchen, trank mehr, aß weniger und zog sich zurück. Nach ungefähr einem Monat in diesem Zustand stand Pennebaker eines Morgens auf und setzte sich an seine alte Schreibmaschine. Er begann zu schreiben, völlig frei – über seine Ehe, seine Eltern, seine Sexualität, seine Karriere.

Auch die folgenden Tage schrieb Pennebaker. Dann passierte etwas Faszinierendes: Er fühlte sich besser, befreiter, weniger depressiv. Die Beziehung zu seiner Frau verbesserte sich und er sah sein Leben insgesamt klarer. Er begann zu forschen und untersucht nun seit fast 40 Jahren, wie Schreiben hilft, Lebenskrisen zu verarbeiten.
Marcel, 27, Mitarbeiter der AIDS-Hilfe

Ich hab schon mal als Kind geschrieben. Jeden Tag und ganz ausführlich. Bis 16 hab ich das gemacht, dann hab ich angefangen zu arbeiten. Und weil ich nicht mehr so viel Zeit hatte, hab ich mit dem Schreiben aufgehört. Ich hab das gar nicht vermisst. Aber mir war damals auch nicht bewusst, wie gut es mir tut.

Vor zwei Jahren bin ich dann wegen einer akuten Krise in eine Tagesklinik gekommen. Ich bin schwul und hatte kein leichtes Coming-Out. Das hab ich lange mit mir rumgetragen. Ich war auch unzufrieden mit meinem Lebensweg. Ich hab damals gedacht: "Ich hab alles falsch gemacht. Hätte ich doch Abitur gemacht." Zusammen mit den Therapeuten habe ich überlegt, was mir hilft und da kam ich wieder auf Schreiben.

"Mir hilft es, meine Gedanken zu ordnen und runterzukommen, von der Emotionalschiene."

Ich schreibe fast jeden Tag, auch wenn ich keine Lust hab, aber ich merke, es hilft mir. Ich mag es, wenn ich einen Tag hinter mir hab und nochmal gucken kann, was passiert ist. Um den Tag sacken zu lassen. Wenn ich manchmal Nächte hab, wo ich nicht schlafen kann, steh ich sogar auf und schreibe bis ich wieder schlafen kann.

Wenn man die Texte lesen würde, würde man das vielleicht bekloppt finden. Die lesen sich eher wie ein Protokoll. Ich schreib gar nicht so "Ich war traurig", sondern einfach, was passiert ist. Dieses Rauslassen über Negatives entlastet mich, aber ich schreibe auch auf, was mir Gutes passiert ist. Dadurch schaffe ich, den Blickwinkel zu ändern. Das nimmt die Schärfe. Wenn ich schlecht drauf bin, sehe ich nur das Schlechte, aber wenn ich schreibe, merke ich: Es ist eigentlich okay. Das gelingt mir nur durchs Schreiben. Ich spreche auch viel mit Freunden und das hilft mir auch, aber beim Schreiben bin ich ganz für mich.

Ich fühle mich dann. Ich bin in Kontakt mit mir selbst – und dieser kann kein Kontakt zu jemand anderen ersetzen.

Pennebakers Forschung

Am ersten Experiment, das Pennebaker in den 80ern durchführte, nahmen rund 50 Studierende teil. Ihre Aufgabe: An vier aufeinanderfolgenden Tagen jeweils 15 Minuten schreiben. Er unterteilte die Studierenden in zwei Gruppen. Eine Gruppe sollte über irgendetwas schreiben, die andere über ihre Gedanken und Gefühle zu traumatischen Erlebnissen: Scheidungen der Eltern, sexuelle Übergriffe in der Familie oder den Verlust eines geliebten Menschen. Die Studierenden der Trauma-Gruppe fühlten sich direkt nach dem Schreiben besser.

Dieser Effekt hielt auch in den Wochen danach an, schreibt er in seinem Buch "Expressive Writing: Words that heal". Pennebaker und sein Team überprüften, wie häufig Studierende aus beiden Gruppen wegen einer Erkältungen oder Schmerzen einen Arzt aufsuchten. Die Gruppe, die über emotionale Dinge geschrieben hatte, ging im Schnitt 43 Prozent seltener zum Arzt als die Kontrollgruppe.

Seit dieser ersten Studie gab es gut 300 Untersuchungen, die sich mit den Auswirkungen von Schreiben auf die Gesundheit auseinandersetzten. Demzufolge hat Schreiben positive Effekte auf die Gesundheit wie zum Beispiel geringeren Blutdruck oder ein geringeres Streßlevel. Studierende, die regelmäßig über ihre Gefühle schrieben, erzielten bessere Noten, hatten ein stärkeres Immunsystem und allgemein eine höhere Zufriedenheit mit ihrem Leben.
Miriam, 20, Kauffrau für Spedition- und Logistikdienstleistungen

Diesen Monat jährt sich der Todestag meines Freundes. Er hat sich in einem Waldstück in seinem Auto mit Kohlenmonoxid vergiftet. Wir waren beide depressiv und haben hin und wieder über Suizid gesprochen, aber ich hätte nie gedacht, dass er es wirklich macht. Ich habe direkt nach seinem Selbstmord eine Therapie begonnen und mit meinem Therapeuten über Möglichkeiten gesprochen, die ein Ventil sein könnten: Sport, etwas Kreatives oder ein Tagebuch.

Das Schreiben hilft mir sehr, weil ich alles rauslassen kann. Immer wenn ich mich danach fühle, öffne ich ein Word-Dokument und tippe einfach los, meist ist es wie ein Lawine, alles kommt von alleine raus. Das kann auch mehrere Stunden dauern. Meistens passiert das abends oder nachts, da bin ich melancholischer oder kann nicht schlafen, weil mir Dinge im Kopf rumschwirren oder der Schmerz so groß ist.

"Es gibt Tage, die sind gut, da kann ich es verdrängen und es gibt Tage, das geht gar nix, dann hol ich mir meinen Laptop und tippe los."

Manchmal schreibe ich eine Woche lang gar nicht, dann wieder jeden Tag. Ich kann alles loswerden, ohne mir Gedanken über Reaktionen zu machen. Das ist ein Vorteil zu Gesprächen. Ich mag es generell nicht, mit anderen Leuten über intime Dinge zu reden oder vor ihnen zu weinen. Ich hab dann oft das Gefühl, ich müsste mich rechtfertigen oder sie sagen "Es wird schon wieder".

Ab und zu lese ich mir Dinge durch, die ich zuvor aufgeschrieben habe, dann bin ich manchmal niedergeschmettert, aber es gibt mir auch Mut, weil ich sehe, dass ich immer noch da bin. Ich werde auf jeden Fall weiterschreiben und kann es jedem nur raten.

Warum hilft Schreiben?

Vereinfacht gesagt passiert beim Schreiben ähnliches, wie wenn man über ein Problem spricht. "Sie entlasten ihre Seele", sagt Jürgen vom Scheidt, Schriftsteller und Psychologe, der seit Jahren Schreibkurse anbietet. "Es ist ein Prozess des Loslassens. Ich hole das Erlebte und meine Gefühle aus mir raus", sagt Sylvia Winnewisser, Autorin des Buches "Einfach die Seele frei schreiben".

Und noch etwas passiert beim Schreiben: Man gewinnt Distanz zum Erlebten und seinen Gefühlen und wechselt die Perspektive. Wer sich Dinge von der Seele schreibt, kann sie danach noch mal lesen und sie wie ein Außenstehender bewerten.

"Der Blick als Dritter eröffnet oft neue Lösungsmöglichkeiten", sagt Winnewisser. Außerdem machten Menschen, die über ihre Probleme schreiben, häufig die Erfahrung, dass man sich selbst helfen kann. "Das kann sehr befreiend sein", sagt sie. 
Bastian, 31, arbeitet im IT-Bereich

2012 hat sich meine Schwester das Leben genommen. Danach bin ich in eine Krise gestürzt. Wir haben keine Nachricht von ihr bekommen und das beschäftigt mich bis heute. Weil ich die Gründe für ihren Tod nicht kannte, ist die Grübelmaschine angegangen – und seither versuche ich durch das ganze Nachdenken zu verstehen. Direkt danach war eine Zeit der völligen Überforderung. Ich hatte viel Verantwortung im Beruf und mich sehr unverstanden gefühlt.

Ich habe gemerkt, dass es vielen schwer fiel, mit mir zu sprechen, wenn ich diese typischen Phasen durchgemacht habe. Wut und so. Wenn mich jemand gefragt hat "Wie geht's dir damit", musste ich spontan antworten, aber da waren so viele chaotische Gedanken – es war mir nicht möglich, das in Worte zu fassen. Ich konnte nicht schlafen, nicht gut essen und habe abgenommen. Also bin ich zu einer Theraupeutin gegangen, die auf Trauer spezialisiert war.

"Durchs Schreiben bin ich mir mein eigener Gesprächspartner geworden."

Und ich habe geschrieben. Es hilft mir, wenn ich schmerzhafte Dinge in fiktive Handlungen einbette. Ich abstrahiere, spiele mit anderen Figuren, stricke Geschichten. Oft führe ich Gespräche, die ich mit meiner Schwester nicht führen konnte oder werde, und lasse sie in den Kurzgeschichten stattfinden. Es hilft mir, etwas Abstand und Leichtigkeit zu bekommen.

Ich habe das Gefühl, dass der Trauerprozess bei anderen länger dauert, wenn sie keinen kreativen Ausgleich haben. Ich würde nicht sagen, dass Schreiben jedem hilft – aber ich glaube, dass irgendetwas Kreatives heilen kann. Mein Vater schreibt nicht, er musiziert. Wenn ich mit ihm über den Tod spreche, wirkt er ähnlich gefasst. Bei meiner Mutter ist das nicht so. Die Trauer ist ein Auto, in das wir reingezwungen wurden, aber das Schreiben ist mein Motor geworden, um voranzukommen.

Grenzen des Ansatzes

Anders als man vermuten könnte, spielt es keine Rolle, wie gut jemand schreiben kann. Pennebaker sagt jedoch, dass man einige Tage Abstand zu dem traumatischen Erlebnis braucht, um vom Schreiben profitieren zu können. Direkt danach seien Menschen häufig zu desorientiert, schreibt Pennebaker in seinem Buch. Ob das wirklich so ist, muss wohl jeder Mensch für sich entscheiden. Schreibende, die wir für diesen Text interviewt haben, begannen häufig direkt danach oder noch am selben Tag zu schreiben – und empfanden es als befreiend.

Wirkliche Regeln gibt es nicht, sagt Winnewisser. "Es reicht, einfach loszuschreiben." Auch Pennebaker machte den Studierenden in seinem Experiment so gut wie keine Vorgaben. Sie sollten lediglich an vier aufeinanderfolgen Tagen jeweils 15 Minuten schreiben. Ob auf Papier oder einem Computer, spielt dabei keine Rolle. Außerdem ist es egal, ob man das Geschriebene aufhebt oder wegwirft, beziehungsweise löscht. Wichtig ist Pennebaker zufolge jedoch, tatsächlich über seine Gefühle und tiefsten Gedanken zu schreiben und sie – wenn möglich – mit der aktuellen Lebenssituation zu verknüpfen. Mitunter bestehe die Gefahr, dass Schreibende sich mit ihren Problemen im Kreis drehen, ständig dasselbe schreiben und sich überanalysieren, schreibt Pennebaker. Er rät in diesem Fall, seine Schreibstrategie zu überdenken und Techniken wie Mindmapping auszuprobieren.

Gerade bei schweren Krisen sollte man sich nicht alleine auf die heilende Wirkung des Schreibens verlassen. "Schlimme traumatische Ereignisse lassen sich so nicht lindern, da braucht man fachlichen Beistand", sagt Autorin Winnewisser. Und Psychologe vom Scheidt ergänzt: "Schreiben ist noch lange keine Therapie, das ist eine Art Selbsterfahrung." Auch das deckt sich mit den Erfahrungen von Menschen, die wir für diesen Text befragt haben. Zwei von vier konsultierten zusätzlich Therapeuten.

Wanda, 31, Studentin

Ich war 28, als ich mich von meinem damaligen Freund getrennt habe. Es war nicht meine erste Trennung, aber diese hat besonders reingehauen, weil ich so auf ihn fixiert war. Ich habe noch am Tag der Trennung im Internet recherchiert und bin auf ein Forum gestoßen, in dem Leute mit Liebeskummer anonym aber öffentlich über ihre Erlebnisse schreiben. Ich hab am selben Tag angefangen zu schreiben. Das öffentlich zu machen, war für mich ein Ansporn, weil ich wusste, andere Menschen lesen das und es hilft vielleicht auch ihnen.

"Es ist einfach aus mir rausgeflossen und hat mir geholfen, meine Schockstarre zu überwinden."

Zu Beginn habe ich jeden Tag geschrieben, immer wenn mir danach war. Der Unterschied zu Gesprächen mit Freunden ist, dass es sich geschützter anfühlt und es eine Distanz schafft. Ich habe darüber geschrieben, was falsch gelaufen ist und welche Fehler ich gemacht habe. Das Tagebuch war wie ein Anker für mich. Es war eine Routine, an die ich mich klammern konnte, weil mein Freund nicht mehr da war. Insgesamt habe ich anderthalb Jahre lang geschrieben.

Das Schreiben hat mir gezeigt, dass jeder Schmerz irgendwann aufhört. Es hilft, aus seinem Gedankengefängnis rauszukommen und ist wie eine Art Eigentherapie. Wenn ich es nicht gemacht hätte, wäre ich heute bestimmt an manchen Punkten verzweifelter und das Gute ist, dass man es immer machen kann, auch nachts, wenn niemand zum Reden da ist. Ich empfehle das jedem Mensch, der eine schwierige Phase durchmacht.