Am Freitag lädt Deutschlands Bauminister Horst Seehofer zum Wohnungsgipfel. Diskutiert wird über die Zukunft des Bauens, Wohnens und der Stadtentwicklung. Klingt sinnvoll, immerhin herrscht in vielen deutschen Städten Wohnungsnot. Immobilienverbände schätzen, dass jährlich 350.000 bis 400.000 neue Wohnungen entstehen müssten. Doch voraussichtlich wird der Bedarf auch in diesem Jahr nicht gedeckt: Es werden wohl 300.000 neue Wohnungen entstehen. Insbesondere bei Sozialwohnungen besteht ein großes Defizit.

Immerhin hat Seehofer die Brisanz dieses Notstandes erkannt, er bezeichnet die Wohnungs- und Baupolitik als die "soziale Frage unserer Zeit". Blöd nur, dass er sich beim Wohnungsgifel hauptsächlich mit Interessent*innen der Wohnungswirtschaft auf die Suche nach Antworten begeben will: Zwölf Wohnungsanbieter*innenverbänden stehen nur drei Mieter*innenverbänden gegenüber, kritisiert unter anderem die Initiative LobbyControl. Auf soziale Fragen muss es nicht zwingend auch soziale Antworten geben, das scheint vorab schonmal klar.

Es bleibt also fraglich, inwiefern bei dem Gipfel innovative Ansätze für eine Stadtentwicklung diskutiert werden, die nicht nur nach Profiten, sondern nach den Bedürfnissen der Bewohner*innen fragt. Gesprächsstoff gäbe es jedenfalls genug. In vielen Städten werden wegweisende Projekte bereits erfolgreich durchgeführt. Ein Blick nach Helsinki, Zürich, Bremen, Wien, Tallinn und Hamburg.

Helsinki bietet allen Bürger*innen eine Wohnung

Die finnische Hauptstadt hat die Obdachlosigkeit abgeschafft. Quasi. Die kleinen Zelt-Dörfer obdachlos lebender Menschen sind jedenfalls aus den Parks verschwunden. Der Grund: In Helsinki und neun weiteren Städten Finnlands läuft das Programm Housing First.

Das ursprünglich in New York entwickelte Modell sieht vor, dass jede*r Bürger*in eine Wohnung gestellt bekommt. Obdachlose müssen ihr Leben nicht erst soweit organisieren, dass sie Chancen auf dem Wohnungsmarkt haben. Sie bekommen zuerst ein Dach über den Kopf und können sich dann in Ruhe um den Rest kümmern.

In Finnland übernehmen NGOs die Organisation, der Staat bietet günstige Anleihen für den Hausbau und übernimmt die Kosten für die Sozialarbeit. Obwohl es günstiger wäre, Wohnungen auf dem Land bereitzustellen, wird gezielt in der Stadt gebaut. Obdachlose sollen ihr soziales Netz nicht aufgeben müssen. Die Mieten liegen weit unter dem Durchschnitt und werden von den Bewohner*innen selbst gezahlt. Haben diese noch keinen Job, bekommen sie Wohngeld vom Staat. Wer die Miete nicht zahlt, muss wieder ausziehen, kann aber jederzeit wieder aufgenommen werden. Es gibt keine Obergrenze.

In Deutschland wird das Modell von der gemeinnützigen Organisation fiftyfifty in Düsseldorf umgesetzt. Auch Berlin soll im Oktober folgen. Die Zahlen sprechen für eine Ausweitung des Modells: Weltweit konnte Housing First die Wohnungslosigkeit bei mindestens acht von zehn Personen beenden (PDF).

In Zürich darf ungenutzter Raum besetzt werden

Übrigens ist in Deutschland die Zahl der Wohnungslosen zwischen 2014 und 2017 um ganze 150 Prozent gestiegen. Etwa 52.000 Menschen leben auf der Straße. Absurd dabei: Gleichzeitig stehen allein in Berlin schätzungsweise 100.000 Wohnungen leer. Die Regierung müsste den Bürger*innen lediglich erlauben, sich diese zu nehmen.

Das Gegenteil ist der Fall: Wer leerstehenden Wohnraum besetzt, macht sich in Deutschland strafbar, egal seit wie vielen Jahren dieser ungenutzt vor sich hin bröckelt. Bis zu einem Jahr Gefängnis droht für Hausfriedensbruch, wenn der*die Eigentümer*in Strafanzeige stellt.

In Zürich ist das anders: Dort dürfen Häuser besetzt werden, solange keine Pläne für eine konkrete und zeitnahe Nutzung des Gebäudes vorgelegt werden können. Damit ist Zürich eine der wenigen europäischen Städte, in denen erfolgreiche Besetzungen so einfach möglich sind. In Großbritannien und der Niederlande hat es lange Zeit besetzungsfreundliche Gesetze gegeben – sie wurden in den letzen Jahren durch konservative oder rechtspopulistische Kräfte gekippt. Besetzungen sind nun teilweise oder ganz verboten.

In Deutschland bringen neuerdings die Besetzungen der Berliner #besetzen-Aktivist*innen Bewegung in die Debatte. Politiker*innen der Berliner Grünen forderten zuletzt, das Zürcher Modell zu übernehmen. Die Tausenden Wohnungen könnten endlich bewohnt und spekulativer Leerstand beendet werden.

Raum für kreative Ideen in Bremen

Leerstand für einen begrenzten Zeitraum kreativ zu bespielen – das ist in etwa die Definition von Zwischennutzungen. Dafür müssen Gebäude nicht zwingend besetzt werden, wie man in Bremen zeigt. Dort bieten Künstler*innen auf einem verlassenen Hafengrundstück Theateraufführungen und Performances, bauen eine alte Wurstfabrik zur Kreativ-Zentrale um – das sogenannte Wurst Case – und veranstalten in den leeren Hallen eines prachtvollen Industriegebäudes bunte Festivals. Alles legal und ohne Stress mit der Polizei.

Zu verdanken ist das der Bremer ZwischenZeitZentrale. Sie hält nach geeigneten Gebäuden Ausschau, berät die Eigentümer*innen, entwickelt mit kreativen Interessent*innen Konzepte und begleitet deren Zwischennutzungsprojekte. Für die Stadtentwicklung werden so wichtige Impulse gegeben: Temporär entstehen nichtkommerzielle Räume, in denen sich die Bewohner*innen ausprobieren und Nachbarschaften miteinander vernetzen können. Die Zwischennutzer*innen zahlen in der Regel eine niedrige Miete. Das Konzept bietet auch für den*die Eigentümer*in Vorteile: Die Immobilie wird belebt, instand gehalten und vor Vandalismus geschützt. Aus Zwischennutzungen entstehen deshalb nicht selten langjährige Mietverhältnisse.

Wien will die Stadt für alle bauen

Wie baut man eine Stadt für alle Bewohner*innen? Auf jeden Fall anders, als es viele Jahrzehnte üblich war. Verkehr, Plätze, öffentlichen Toiletten – alles wurde lange Zeit so geplant, dass Städte vor allem für einen Typ Bewohner*in lebenswert sind: den cis Mann.

Gender Planning will das verändern. In Wien ist Gender Mainstreaming zur einflussreichen Perspektive auf die Stadtentwicklung geworden (PDF). Die Österreichische Hauptstadt zählt zu den Vorreiterinnen auf diesem Gebiet. Konkret bedeutet dies etwa, dass Unisextoiletten im öffentlichen Raum geschaffen werden. Dass Wohnsiedlungen so gebaut werden, dass der halbtags arbeitende Elternteil gute Anbindungen an Schule, Job und Supermarkt hat. Oder dass dunkle Straßen und Plätze hell und einsehbar gestaltet werden, sodass sich auch nachts alle Menschen auf ihnen aufhalten mögen.

Was auf den ersten Blick nach einer Zementierung von Geschlechterrollen klingen mag, will das genaue Gegenteil: Eine Stadt für alle Menschen und Lebensentwürfe. Gender Planer*innen versuchen Belange, die als frauenspezifisch ausgemacht werden, stärker zu berücksichtigen – nicht, weil sie annehmen, dass Bewohnerinnen generell ängstliche Hausfrauen seien. Vielmehr macht es sensibel dafür, dass Menschen die Stadt unterschiedlich nutzen und verschiedene Ansprüche an sie haben.

In Tallinn ist Mobilität keine Frage des Geldes

Ein dichtes und günstiges Nahverkehrsnetz ist nicht nur aus der Sicht des Gender Plannings sinnvoll – Studien zeigen, dass Frauen häufiger Bus und Bahn fahren als Männer. Vielmehr noch macht es Mobilität auch für ärmere Menschen möglich. Wien bietet ein Jahresticket für nur einen Euro am Tag, Tallinn setzt noch einen drauf: dort darf jede*r der 430.000 Bewohner*in ohne Fahrschein fahren. Die Stadt bezahlt.

2013 führte die Regierung das Modell ein. Weniger aus ökologischen Gründen, sondern aus sozialen. Viele konnten sich die Tickets nicht mehr leisten. Die Nutzung stieg daraufhin um 14 Prozent. Keine Zunahme also, die das Netz zusammenbrechen lies – ein Argument, das Kritiker*innen häufig vorbringen.

Bewohner*innen umliegender Gemeinden müssen auch weiterhin ein Ticket kaufen. Allerdings ist Estland schon dabei, ein landesweites Busnetz auszubauen, das ebenfalls fahrscheinlos funktionieren soll. Auch Ausländer*innen sollen in Zukunft kostenlos fahren dürfen.

Partizipation in Hamburg: Einfach mal die Anwohner*innen fragen

Das St. Pauli von morgen wurde mit Lego, Edding und Knete geplant. An der Hamburger Reeperbahn steht seit 2014 die Planbude, ein partizipatives Planungsbüro. In dem Container mit großen Fenstern konnten Anwohner*innen ein halbes Jahr lang ihre Ideen kreativ einbringen. Künstler*innen, Architekt*innen, Studierende und Sozialarbeiter*innen versuchten sie so zu übersetzen, dass diese realisierbar sind.

Gegründet wurde die Planbude wegen anhaltender Proteste gegen den Abrisses der sogenannten Esso-Häuser. Der*die Investor*in hatte diese verfallen lassen, bis sie als einsturzgefährdet galten. Über Nacht verloren die Bewohner*innen ihre Wohnung. Die Planbude ist ein Wiedergutmachungsversuch. Ein Angebot, den Neubau nicht von Investor*innen, sondern von echten Expert*innen planen zu lassen: den Anwohner*innen selbst.

Das Beteiligungsverfahren fand großen Zuspruch: 2.000 Beiträge wurden verarbeitet, am Ende wurde eine Liste mit Grundsätzen veröffentlicht, der St. Pauli Code (PDF). Darin aufgelistete Punkte sind etwa der Vorrang für Eigentümer*innen-geführtes Gewerbe, die Schaffung öffentlicher Räume ohne Konsumzwang oder die Förderung von Experiment und Subkultur.

Wer heute die Planbude besucht, kann sich ein Modell des neu entworfenen Areals anschauen – ein Gebäudeensemble mit Skateplatz auf dem Dach, Kletterwand an der Fassade, einem öffentlichen Balkon, Dachgarten und 60 Prozent öffentlich geförderten Wohnungen.

Die St. Paulianer*innen feierten die Präsentation des Entwurfs auf der Straße und ließen sich vor der Baustelle mit Plakaten fotografieren. Die Botschaft darauf: "L’urbaniste c’est moi!" – der*die Stadtplaner*in bin ich!