Ein kleines Mädchen steht vor dem Spiegel. Die Haare sind verwuschelt, ihr Hemd schräg geknöpft. Sie dreht sich nach links und nach rechts, blickt ernsthaft prüfend auf ihr Spiegelbild. Schließlich dreht sie sich um: "Mama, bin ich schön?" Eine Szene, die die Autorin Caitlyn Siehl in einem Gedicht über ihre kleine Tochter beschreibt. Eine Begebenheit, die sich so oder ganz ähnlich überall und immer wieder zuträgt. Wir haben es schon oft gehört und wir haben es uns selbst oft genug gefragt: Bin ich schön?

Diese Frage, die uns als jungen Mädchen, als jungen Frauen so schwer im Magen liegt, und deren Bejahung wir unseren Eltern zwar abgenommen haben, aber nur weil sie uns lieben, wird immer mehr zu einer Frage, die uns an jeder Straßenecke beantwortet wird. Mit einem lauten "Ja!".

Wir sind alle so schön

Ob Kurven, Dehnungsstreifen oder behaarte Achseln – mittlerweile ist das angeblich alles total okay; sie machen uns aus, sie machen uns schön. So ruft es von Plakatwänden, so steht es in Magazinen, so versichern es uns Kampagnen wie #effyourbeautystandards und zur Not auch Guido Maria Kretschmer im Fernsehen.

War Schönheit vor noch nicht allzu langer Zeit nur den Norm-Gesäßen, den Fein-Nasigen und Prall-Brüstigen vorbehalten, dürfen wir uns nun alle so richtig schön fühlen. Dürfen endlich glauben, diese vermeintlich letzte Bastion der Geschlechter-Ungerechtigkeit erstürmt zu haben: Denn wie viele kleine Jungs fragen ihre Mütter, ob sie schön sind?!

Wir haben uns dem Schönheits-Diktat quasi basisdemokratisch entzogen: Wir sind jetzt nämlich einfach alle schön. Trotz Cellulite, trotz dicker Schenkel, trotz Tattoos und dünner Haare. Jede darf sich trotzdem-schön fühlen. BMI my pretty ass!

Schönheit ist eine Währung

Alle schön, also alles gut? Leider nein. Denn das, was als vermeintliches Empowerment, als fröhlich-feministische Errungenschaft daherkommt, ist das genaue Gegenteil davon. Dafür sprechen nicht nur Zahlen, dafür spricht auch die Ideologie, die dahintersteckt. Wir sollten uns den "Alle sind schön"-Trend lieber mal genauer anschauen.

Sicher, oberflächlich betrachtet sind Kampagnen wie beispielsweise die von Dove, H&M oder die unzähligen auf Instagram lancierten Sei-wie-du-bist-Trends eine feine Sache. Denn sie geben vielen Frauen die Möglichkeit, sich wiederzuerkennen, sich akzeptiert zu fühlen. Aber so einfach ist es eben nicht. Es geht hier nämlich nicht um ein gutes Gefühl, es geht immer noch um Schönheit. Und wie wir Schönheit definieren, hatte schon immer mehr mit Macht als mit Liebe zu tun.

Denn Schönheit ist keine ewige Wahrheit. Was als "schön" beschrieben wird, ist kulturell gemacht. Die US-amerikanische Autorin Naomi Wolf hat das vor über 20 Jahren in ihrem Buch "Der Mythos Schönheit" sehr präzise aufgeschlüsselt. Dort vergleicht sie Schönheit mit einer Art Währung, Schönheit sei wie der "Gold Standard". Und der werde nunmal in jeder Volkswirtschaft neu festgelegt – und zwar nicht beliebig, sondern knallharten Interessen folgend. Schönheit als kulturelle Norm. Diese Norm schreibt Frauen, Männern natürlich auch, Wert zu. Wer nicht als schön wahrgenommen wird, hat entsprechend weniger Wert.

Dieser Wert äußert sich im Fall der Schönheit in fast allen Bereichen des Lebens. Beim Werben um eine*n Partner*in, bei Bewerbungen, im Job, auf der Straße, in der Politik. Hässlich, also das Gegenteil von schön zu sein, ist eine Kränkung, die uns ins Mark trifft. So machtvoll ist unsere Definition von Schönheit. Und sie wird immer noch vor allem dazu gebraucht, Frauen zu diskreditieren.

Schönheit für alle!

Aber dann ist doch super, wenn sich unser Schönheits-Begriff ändert? Ist doch toll, wenn wir nun auch akzeptieren sollen, dass nicht nur superschlanke, sondern auch übergewichtige und nicht vollständig enthaarte Frauen schön sein können? Sorry, aber: Pustekuchen! Denn was wir unter "Schönheit" verstehen, wird nicht plötzlich aus Menschenliebe umgedeutet.

Dass wir uns nun fast alle als "schön" empfinden dürfen, tut nämlich nur solange gut, bis man merkt, dass diese Umdeutung wie das Trojanische Pferd funktioniert. Was erstmal jubeln lässt, zerstört uns schließlich von innen. Schönheit wird vielleicht demokratischer, aber dadurch auch absoluter. Schönheit betrifft uns nun alle. Und das ist der Kern des Ganzen: Wir müssen nun alle schön sein. Es ist unsere Pflicht.

Schönheit wird so zur Aufgabe, zum Imperativ. Es ist das Tschakka des Frau-Seins. Und so snapshatten und instagrammen wir unsere wie auch immer gearteten Körper stolz als "schön" in die Welt hinaus – ohne zu merken, dass wir dabei nur auf eine Ausweitung der Kampfzone hereingefallen sind. Schönheit wird in Wahrheit immer anstrengender. Die Zahl der diagnostizierten Magersüchtigen in deutschen Krankenhäusern ist in den letzten zehn Jahren rasant gestiegen, die Zahl der Schönheitsoperationen um ganze neun Prozent innerhalb des letzten Jahres. #effyourbeautystandards? Ne, is’ klar!

Schönheit ist (nicht) käuflich

Ich will damit gar nicht sagen, dass dieser erweiterte Schönheitsbegriff uns nicht auch gut tut. Es ist großartig, dass wir wegkommen vom öden 90-60-90. Es braucht Vorbilder, die anders aussehen oder einfach welche, die wie die meisten von uns aussehen. Und die unzähligen Mädchen, die – hoffentlich – durch Trotzdem-schön-Frauen zufriedener mit ihren Körpern sind, die haben jedes gute Gefühl von Herzen verdient.

Aber diese Mädchen und Frauen sollten auch merken, dass diese "neue Schönheit" keine neue Freiheit ist. Sie setzt uns immer noch verbindliche Bilder vor: "Hauptsache straff!"

Und dabei hilft das Gedicht von Caitlyn Siehl. Dort antwortet sie nämlich mit folgendem Satz auf das "Bin ich schön?" ihrer Tochter. Ein Satz, den wir unseren Schwestern und Töchtern (und Brüdern und Söhnen) und vor allem uns selbst immer wieder vor Augen halten sollten:"du musst nicht hübsch sein, wenn du es nicht willst. / es ist nicht dein job."

Ganz genau. Es ist nicht unser verdammter Job.