Großbritannien steht vor einer Schicksalswahl. Am 12. Dezember wählt das Vereinigte Königreich eine neue Regierung. Damit entscheidet das Land über den weiteren Ablauf des Brexits und über einen Zukunftskurs, der das Leben der nächsten zwei, drei Generationen massiv beeinflussen wird.

Neben den beiden großen Volksparteien – den konservativen Tories, angeführt vom aktuellen Premierminister Boris Johnson, und der traditionellen Arbeiterpartei Labour – gibt es noch eine weitere Kraft, die eine kleine, aber sehr entscheidende Rolle spielen kann: die Liberalen Demokraten. Deren Vorsitzende heißt seit Juli Jo Swinson. Und sie hat verkündet, Großbritanniens nächste Premierministerin werden zu wollen.

Dass das eher unwahrscheinlich ist, dürfte Swinson selbst klar sein. Dennoch sind die Liberalen Demokraten als momentan drittstärkste Partei Großbritanniens nicht zu unterschätzen.

Wer sind die Liberalen Demokraten?

Die Liberalen Demokraten wurden offiziell 1988 gegründet; sie haben ihre Wurzeln irgendwo im Liberalismus des 18. und der Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts. Im Jahr 2019 stehen sie laut Wahlprogramm unter anderem für den Kampf gegen den Klimanotstand, eine gerechtere Wirtschaft, ein besseres Bildungssystem und einen Ausbau der Mental-Health-Versorgung.

Wichtigster Punkt und Kern der derzeitigen Partei-Identität ist jedoch: die Brexit-Bremse ziehen. In ihrer Antrittsrede als Parteivorsitzende vor knapp fünf Monaten sagte Jo Swinson: "Als Vorsitzende werde ich alles tun, was in meiner Macht steht, um den Brexit zu stoppen."

Der Plan der Liberalen Demokraten ist, den Artikel 50, der den EU-Austritt offiziell ausgelöst hat, zurückzuziehen. Damit sprechen sie Wähler*innen an, die unbedingt in der EU bleiben wollen – und positionieren sich ausdrücklich als Gegengewicht zu den Tories und der Brexit-Partei.

Das mag zwar im ersten Moment nach einem beherzten und klugen Move klingen, trifft aber mitnichten nur auf Zuspruch. Selbst pro-europäisch eingestellte Brit*innen und hier lebende Europäer*innen halten einen so radikalen Rückzug für problematisch – untergräbt er doch das (knappe) Ergebnis einer Volksabstimmung und würde damit, so befürchten einige, für eine noch tiefere Spaltung des bereits ziemlich zerstrittenen Landes sorgen.

Wer ist Jo Swinson?

Das kümmert Jo Swinson offenbar nicht, noch ist immerhin Wahlkampf. Auf Flyern, die hier in Großbritannien verteilt werden, posiert sie selbstbewusst als "nächste Premierministerin".

Auch beim Wahlkampfauftakt Anfang November sagte sie: "Ich hätte mir nie vorstellen können, mal hier zu stehen und zu sagen, dass ich eine Kandidatin für das Amt der Premierministerin bin." Und fügte hinzu: "Aber es sind schon merkwürdigere Dinge passiert."

Merkwürdig wäre es in der Tat. Die aktuellen Umfragewerte geben das nämlich keinesfalls her. Demnach liegen Boris Johnsons Tories bei rund 43 Prozent, Jeremy Corbyns Labour bei etwa 33 Prozent und Jo Swinsons Liberale Demokraten bei um die 13 Prozent.

Im Juni lagen die Parteien noch deutlich näher beieinander: Labour bei 23, die Brexit-Partei bei 22, die Tories bei 21 und die LibDems bei 19 Prozent. Doch seit Nigel Farage verkündet hat, dass die Brexit-Partei den Tories keine Sitze streitig machen will, legen letztere in den Umfragen wieder zu.

Dass sich die Liberalen Demokraten halbwegs halten, liegt unter anderem an ihrer Vorsitzenden. Nachdem Swinson ihr Amt aufgenommen hatte, ist ein ganzer Schwung Neumitglieder eingetreten; auch einige Mitglieder anderer Parteien wie Labour und Tories haben sich den Liberalen Demokraten angeschlossen.

Mit Baby ins Parlament

Jo Swinson ist 39 Jahre alt, die erste Frau an der Parteispitze, zweifache Mutter und selbstbewusst. Sie war ab 2017 stellvertretende Vorsitzende der LibDems und mit ihrer Partei von 2010 bis 2015 in der Regierungskoalition mit David Camerons Tories (Zur Erinnerung: Das ist der Typ, der Großbritannien das Brexit-Referendum eingebrockt hat).

Schon seit dem Teenageralter ist Jo Swinson politisch engagiert und Mitglied der Liberalen Demokraten. Seit 2005 vertritt sie als Abgeordnete ihren Wahlkreis East Dunbartonshire im britischen Parlament in Westminster. Ursprünglich kommt Swinson nämlich aus Schottland, genauer gesagt aus Glasgow. Aufgewachsen ist sie in dem unaufgeregten Vorörtchen Milngavie. Dort, wo der West Highland Way beginnt und sonst wirklich wenig los ist.

Wenn man sich unter den Bürger*innen Milngavies umhört, schlägt einem wenig Begeisterung entgegen. "Wer ist Jo Swinson? Ach ja, das ist die Abgeordnete, die nur in Wahlkampfzeiten vorbeikommt", schreibt Helen Williams auf Facebook. Und Vicki Rogers meint: "Dazu habe ich jede Menge zu sagen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob man das auch veröffentlichen kann."

Doch mit ihrer unkonventionellen Art hat sich Jo Swinson auch eine Anhängerschaft aufgebaut. Zum Beispiel, als sie 2018 ihr zweites Kind Daniel ins House of Commons (Unterhaus des britischen Parlaments) mitbrachte, mit dem Baby vor der Brust an einer Debatte teilnahm – und damit Geschichte schrieb.

Niemand mag Nuklearwaffen und Sparmaßnahmen

Kritik an Jo Swinson gibt es immer wieder. Zum Beispiel dafür, dass sie damals, als die Liberalen Demokraten in einer Koalition mit den Tories waren, für die harten Austeritäts- und Sparmaßnahmen gestimmt hat. Dafür hat sie sich gerade wahlkampfgerecht entschuldigt.

Und als Swinson in einem Interview gefragt wurde, ob sie Atomwaffen einsetzen würde, sagte sie ohne zu blinzeln ja – wofür sie sich öffentliche Schelte einhandelte.

Unter anderem von Schottlands First Minister Nicola Sturgeon, die im Guardian eine erbitterte Replik schrieb. Kein Wunder: Hier in der Nähe von Swinsons Heimat und Sturgeons Wohnort Glasgow sind U-Boote mit Nuklearsprengköpfen stationiert, und damit fühlt sich kaum jemand wohl.

Königsmacherin Swinson

In die Verlegenheit, als Regierungschefin selbst auf den roten Knopf drücken zu müssen, wird Jo Swinson aller Voraussicht nach nicht kommen. Trotzdem könnten die Liberalen Demokraten bei der Wahl am 12. Dezember genug Stimmen holen, um das alles entscheidende Zünglein an der politischen Waage zu sein. Auch, wenn Jo Swinson eine Koalition mit der Labour-Partei bisher abgelehnt hat.

Das hat einerseits mit ziemlich unterschiedlichen Brexit-Vorstellungen von LibDems und Labour zu tun. Die Liberalen Demokraten wollen ihn komplett stoppen; Labour wäre eher für ein zweites Referendum. Aber hier hat Jo Swinson ihre Position unlängst etwas aufgeweicht.

Vor allem aber stört sich Swinson an Labour-Chef Jeremy Corbyn, der ihr zufolge nicht in der Lage sei, das Amt des Premierministers zu bekleiden. Mit einer Labour-Partei ohne Corbyn jedoch würden Jo Swinsons Liberale Demokraten vielleicht doch koalieren. Und das könnte für eine knappe Mehrheit reichen; vor allem, wenn sich noch kleinere Parteien wie die Scottish National Party (SNP) oder die Grünen dazugesellen.

Und es sind schon merkwürdigere Dinge passiert. Vor allem in Großbritannien.