Jedes dritte Haus in Zeitz steht leer, hier gibt’s die billigsten Mieten Deutschlands. Für Künstler*innen ist die ehemalige DDR-Metropole ein Traum. Wie ein Ort wieder zum Leben erwacht.

Sie tun mir leid. Zeitz ist wirklich eine hässliche Stadt. Da wären Sie mal leichter nach Leipzig gefahren.

Mit diesen Worten verabschiedet sich meine Interviewpartnerin von mir. Ich bin in die südlichste Spitze Sachsen-Anhalts gereist, um über den Kohleausstieg zu recherchieren. Übernachten werde ich in Zeitz, im Herzen des mitteldeutschen Braunkohlereviers, knapp 50 Kilometer von Leipzig entfernt.

Der Deutschlandfunknennt Zeitz eine "Geisterstadt". Die Hälfte der Einwohner*innen ist nach der Wende weggezogen, als die meisten Unternehmen pleite gingen oder in den Westen umsiedelten. Jedes dritte Haus steht heute leer, eine Dreizimmerwohnung kriegt man bereits für 300 Euro kalt. Als ich in Zeitz ankomme, werde ich überrascht. Denn die Stadt hat einiges zu bieten. Allerdings erst auf den zweiten Blick.

Wunderschöne Altbauten und Industriecharme

Auf der Fahrt durch die 29.000-Einwohner*innen-Stadt bestätigt sich der vorauseilende Ruf. Mich begrüßen leerstehende Häuser, verlassene Fabrikgebäude, Zeugen der florierenden Vergangenheit, als Zeitz noch eine Industriemetropole war. Wunderschöne Altbauten säumen ganze Straßenzüge, würden sie in Berlin stehen, gäbe es bei der Wohnungsbesichtigung lange Schlangen bis um den Block. Doch hier? Hier sollen sie abgerissen werden, Rückbau heißt das im Politiksprech. Verlassene Häuser sollen Parks und Parkplätzen weichen, das Stadtbild verschönert werden.

Doch inmitten der tristen Fassaden finden sich ein paar Perlen. Eine neue Generation Zeitzer*innen hat die Industriebauten für sich entdeckt. So zum Beispiel der bildende Künstler Philipp Baumgarten. "Die Leute hier sehen nur altes Zeug, das weg muss. Sie assoziieren damit einen Systemverfall", sagt er. "Ich sehe dagegen Lofts und Ateliers." Philipp ist in Zeitz aufgewachsen, fürs Studium nach Dresden und Karlsruhe gezogen. 2014 kam er zurück, um das Potenzial seiner Heimat zu nutzen: große Räume, billige Mieten. Mit Freund*innen pachtete Philipp ein leerstehendes Kloster auf einem Berg am Zeitzer Stadtrand und verwandelte es in ein Kulturzentrum. Mittlerweile wohnen acht Erwachsene und neun Kinder im Kloster Posa, im Stadel sind Ateliers eingerichtet, auch das von Philipp. Im Garten wächst Wein und steht ein zum Campervan umgebauter Doppeldeckerbus.

Einen Kilometer Luftlinie Richtung Zentrum befindet sich Philipps neuestes Projekt: die verlassene Stadtbibliothek. Hier organisiert er Fotoausstellungen mit Studierenden aus Berlin, Dortmund und Leipzig. Im Open Space im Erdgeschoss finden Siebdruck-Battles und Pecha-Kucha-Nights zum Thema Utopie statt. Der große Lesesaal wurde kürzlich für einen Abend in ein Pop-up Restaurant verwandelt.

Endlich geht wieder was in der Stadt, freut sich Musiker Phil Holstein, der den Leerstand ebenfalls für sich entdeckt hat. "Die Zeiten, wo man sagt, oh ne, nie wieder nach Zeitz, da ist nichts los, die Zeiten sind vorbei", sagt er. Phil wohnt zwar – noch – in Leipzig, ist aber seiner Heimat stark verbunden. Mit seiner Band Meilenläufer probt er ein paar Mal die Woche in ihrem Proberaum im ehemaligen Zeitzer Puff.

Wie stolz er auf Zeitz ist, zeigt sich auf einer Rundfahrt mit dem Bandbus durch die Musikgeschichte der Stadt. Von der zugewucherten Villa Weltfrieden, wo die DDR-Jugend feierte – "das war früher noch richtig schmuck" –, über den ehemaligen Indieschuppen Muggefug – "von außen eine Ruine, von innen noch viel schlimmer" –, geht es zum leerstehenden Haus der Jugend. Hier findet diesen Sommer das von ihm und seinen Bandkollegen organisierte Septemberluftfestival statt. Bei dem Festival werden immer andere verlassene Gebäude bespielt, mit Zeitzer Bands und Bands von außerhalb. "Wir wollen damit auch Nicht-Zeitzer*innen herlocken und zeigen, Zeitz gibt’s, Zeitz ist nicht tot", so Phil. 

Lässt sich die Braunkohleindustrie durch Kreativwirtschaft ersetzen?

Zeitz ist nicht tot. Doch ums Überleben kämpft die Stadt schon länger. Als die Mauer 1989 fiel, schloss ein Unternehmen nach dem anderen. Ein weltbekannter Kinderwagenhersteller, eine Konservenfabrik, ein Lackhersteller und zwei Schokoladenfabriken – sie alle konnten mit der Konkurrenz aus dem Westen nicht mithalten. Mit den Unternehmen fielen 20.000 Arbeitsplätze weg. Davon hat sich Zeitz wirtschaftlich nie richtig erholt. Gute, sichere, bezahlte Jobs sind Mangelware. Wer kann, versucht im mitteldeutschen Braunkohleunternehmen Mibrag unterzukommen, dem größten Arbeitgeber der Region.

Selbst mit dem kommenden und aus Klimaschutzgründen dringend benötigten Kohleausstieg gilt ein Ausbildungsplatz bei der Mibrag immer noch als Sechser im Lotto, erzählt Anik Shala. Für ihn sei das aber nichts. Der 19-Jährige ist gerade mit der Schule fertig geworden und widmet seine Zeit nun der Kultur. Er spielt Coverlieder auf Partys und organisiert einen monatlichen Stammtisch, wo Kreativschaffende mit Jugendlichen über ihre Arbeit sprechen. Was er hauptberuflich machen will, weiß er noch nicht. Am liebsten Musik, aber um damit die Miete zahlen zu können, reicht es noch nicht. Rettungssanitäter hätte ihm gefallen, doch das Rote Kreuz hat im September Insolvenz im Burgenlandkreis, zu dem Zeitz gehört, angemeldet. Viele seiner alten Schulfreund*innen zieht es fort. Doch auch wenn die Jobsuche schwierig ist, er ist sich sicher: "Ich liebe diese Stadt und möchte hier nicht weg."

Wenn Politiker*innen und Künstler*innen sprechen, passt das nicht immer.
Philipp, bildender Künstler in Zeitz

Der Kohleausstieg wird ein Wendepunkt für Zeitz. Denn wenn das örtliche Braunkohleunternehmen schließt, fällt eine der letzten treibenden Wirtschaftskräfte weg. Doch es ist auch eine Chance, die Stadt neu zu erfinden. Der Zeitzer Oberbürgermeister Christian Thieme überlegt bereits, welche Industrien man nach dem Ende der Kohle hier ansiedeln könnte. Genau wie Philipp und Phil erkennt er das Potenzial der leerstehenden Industriegebäude, trotz seiner Rückbaupolitik, wobei alte Häuser abgerissen werden, um das Stadtbild zu verschönern. "Wir haben viele schöne rote Klinkerbauten, die heute nicht mehr für industrielle Produktionen geeignet sind. Man hat also sehr viel Platz und viele Gebäude mit ungewöhnlichen Raumzuschnitten, die man für die Kreativwirtschaft nutzen könnte", sagt Thieme. Bei Kreativwirtschaft denke er an Design, Web, Architektur, Film, Fernsehen und Funk, an einen wirtschaftlichen Hintergrund und nicht nur an "Rauminstallation und Bilder an Hauswände malen".

Künstler Philipp sieht diese Definition etwas kritisch, zu kommerziell, doch er stimmt dem Oberbürgermeister zu, dass Zeitz viel Potenzial für Kreativschaffende habe, auch für Künstler*innen aus Leipzig. "Die Stadt Leipzig platzt aus allen Nähten, die Leute können sich in der Innenstadt keine Ateliers oder Werkstätten finanzieren. Die schauen sich um. Man sieht einen Trend, eine Bewegung raus aus Großstädten", sagt Philipp. Es müsste sich allerdings noch ein bisschen was verändern in Zeitz. Denn noch ist die Zwischennutzung von leerstehenden Häusern mit viel Bürokratie verbunden. Deswegen fordert Philipp ein städtisches Leerstandsmanagement und "so eine Art Dolmetscher*in" zwischen Politik und Künstler*innen. "Denn wenn Politiker*innen und Künstler*innen sprechen, dann passt das nicht immer", sagt er.

Zeitz habe jede Menge zu bieten, meint er. Und wer doch mal Großstadtluft braucht, hat es nicht weit bis nach Leipzig. Bei gutem Wetter kann man vom Kloster Posa zwischen den Kohlekraftwerken rechts und den Windrädern links bis nach Leipzig sehen. Philipp träumt davon, irgendwann mal mit dem Boot nach Leipzig fahren zu können, wenn die letzten Braunkohle-Tagebauten geflutet sind und das Leipziger Neuseenland bis fast zu ihm vor die Haustür reicht.