Nach dem Sex gehe ich erst mal pinkeln. Das ist ein Automatismus, über den ich nicht weiter nachdenke. Genauso wenig wie darüber, ob ich in diesem Moment allein im Bad bin, jemand im Türrahmen steht oder sich gerade sein Geschlechtsorgan im Waschbecken säubert.

Bisher hatte da auch noch niemand was dran zu beanstanden. Letztens jedoch machte jemand, nennen wir ihn Manuel, ein erschrockenes Gesicht, als er die angelehnte Badezimmertür öffnete und mich auf der Schüssel sitzen sah. "Oh", sagte er und wandte sich ab, als hätte er mich bei etwas Schrecklichem überrascht. "Ich bin gleich fertig", sagte ich. "Komm ruhig rein." – "Bist du sicher?", fragte er, ohne mich anzusehen. Da erst begriff ich: Was für mich absolut selbstverständlich ist – nämlich, dass man nach der einen Intimität fließend zur anderen übergeht –, ist es offensichtlich nicht für jede*n.

Denn obwohl Manuel mit seiner letzten Freundin sogar mehrere Jahre zusammengelebt hatte, hatte er eines noch nie erlebt: eine Frau beim Pinkeln. Ob er auf Klo war oder sie, die Tür blieb immer geschlossen. "Ist ja auch Privatsache", fügte Manuel hinzu.

Was ist schon privat?

So hatte ich das bisher noch nie betrachtet. Jedenfalls nicht, wenn es Menschen betraf, die mir sehr nah waren. Meine Freundinnen, zum Beispiel. Mit den meisten von ihnen teilte ich schon mal eine Klokabine im Club oder pinkelte zu Hause direkt neben ihnen, während sie sich die Wimpern tuschten. Business as usual. Und erst recht, was meine Sex-Partner*innen betrifft.

Wenn man gerade schon Geschlechtsorgane aneinander gerieben und Körperflüssigkeiten ausgetauscht hat – was macht einem das bisschen Pipi in einem Meter Entfernung eigentlich noch aus? Zumal, sollten wir uns nicht unmittelbar vor dem Akt genitalen Reinigungsprozeduren unterzogen haben (oder konsequent Gummis und Lecktücher zum Einsatz kommen), werden wir beim Blasen oder Lecken eh den ein oder anderen Resttropfen davon zu uns genommen haben.

Tür auf oder Tür zu?

Und doch: Sprach Manuel nur vielleicht etwas aus, das viele andere dachten? Plötzlich verunsichert, fragte ich in meinem Freundeskreis herum, wie es denn die anderen so handhabten. Und stellte fest: Die meisten haben ein Problem damit, gleich beim ersten Date vor dem*der anderen loszupinkeln.

Diese Hemmung baut sich aber für viele nach einer Weile ab. Ein befreundetes Langzeitpärchen bekannte sich sogar dazu, seit einiger Zeit nicht mal mehr beim Kacken die Klotür zuzumachen. Okay, das ist extrem, aber es geht auch andersrum. Ein Freund von mir erzählte, vor seiner Freundin nicht mal die Zähne putzen zu wollen. "Weil es sich sowohl bei Urin als auch bei den Essensresten in meinen Zahnzwischenräumen um Abfallprodukte meines Körpers handelt", erklärte er. "Und die will ich weder meiner Freundin präsentieren noch will ich was mit ihren zu tun haben."

Aber warum eigentlich nicht? Schließlich gehören auch unsere Abfallprodukte zu uns, und solange sie nicht bestialisch stinken, können wir uns ruhig, was sie angeht, entspannen. Es gibt nämlich gute Gründe für gemeinsame Badaufenthalte:

Es ist zeitsparend

Wenn ich abends vor Müdigkeit nicht mehr stehen kann oder morgens keine fünf Sekunden für Waschen, Schminken, Haare Kämmen mehr bleiben – warum sollte ich da warten, bis mein*e Partner*in fertig ist mit Wasserlassen? Manchmal zählt jede Minute, und wenn wir uns Klo und Waschbecken teilen, haben wir beide mehr davon.

Es ist lässig

Viele von uns sind voller Scham für alle möglichen Dinge an unserem Körper – dabei hindert uns diese Scham nur daran, frei zu sein und unbefangen zu agieren. Es gibt nichts Lässigeres als Menschen, die sich in ihrem Körper zu Hause fühlen und sich nicht allzu viele Gedanken über seine Abfallprodukte machen. Die ihre Menschlichkeit nicht voreinander verstecken, sondern einfach gemeinsam tun, was getan werden muss.

Es steigert die Intimität

Sich nicht nur in seinen glanzvollen Momenten zu begegnen, macht eine Beziehung erst tiefer. Denn so lernen wir unser Gegenüber wirklich kennen und können ihn*sie mit allem, was er*sie ist, annehmen. Jemanden beim Abschminken zu beobachten oder während einer Grippe zusammen die Laken durchzuschwitzen, kann genauso Teil dieses Reality-Checks sein, wie ein leises Plätschern zu hören. Und wer seine Freundin ein paarmal beim Rausziehen eines Tampons beobachtet hat, legt vielleicht auch sein Unbehagen gegenüber ihrem Menstruationsblut ab. Denn letzten Endes ist vieles auch nur eine Sache von Gewöhnung.

Manuel riss sich übrigens auch nach mehreren Dates noch immer nicht darum, mit mir gemeinsam zum Klo zu gehen. Aber er machte zumindest nicht mehr so ein erschrockenes Gesicht, wenn es dann doch mal so kam. Stattdessen ist etwas anderes passiert: Wir fingen an zu reden. Über Komplexe und Scham und Sich-verstecken-Wollen. Und das war mindestens genauso lässig und intim, als würden wir voreinander pinkeln.