"Aber nicht erschrecken, wenn ich wütend werde", warnt Sabine Zapf. Das, was sie erzählen wird, wissen bisher nur wenige Menschen. Ihr ehemaliger Mann, ihr heutiger Lebensgefährte und ein paar Freund*innen, die Ähnliches erlebt haben wie die 58-Jährige. Die Erlebnisse liegen Jahrzehnte zurück. Obwohl nie vergessen, hat Sabine Zapf die Erinnerung erst in diesem Jahr wieder hervorgekramt, als sie zufällig auf Facebook auf die Gruppe Interessengemeinschaft Gestohlene Kinder der DDR stieß. Zapf ist so ein gestohlenes Kind. Sie wurde im Alter von fünf Jahren zwangsadoptiert. DDR-Behörden sollen bis zu 10.000 Kinder gegen den Willen ihrer Eltern zur Adoption freigegeben haben.

Von Zwangsadoption werde bei den Kindern gesprochen, die ihren Müttern und Vätern wegen politischer Delikte wie vermeintlicher Verleumdung, Hetze gegen den Staat oder Republikflucht weggenommen wurden, sagt die Rechtsanwältin Marie-Luise Warnecke. Warnecke veröffentlichte 2009 ihre Dissertation Zwangsadoption in der DDR. Die Adoptionen fanden demnach statt, ohne dass ein gegen das Wohl des Kindes gerichtetes Versagen der Eltern vorher nachgewiesen wurde.

Gegen den Willen ihrer leiblichen Mutter wird Sabine Zapf kurz vor ihrem fünften Geburtstag adoptiert

Sabine Zapf wird im Dezember 1960 in Leipzig geboren. Ihre leibliche Mutter ist alleinerziehend, hat bereits zwei Kinder. In der kleinen Wohnung wird es zu eng, eine größere ist in der DDR nicht so leicht zu bekommen. Deshalb wächst Sabine bei Bekannten ihrer Mutter auf, die im selben Haus wohnen. Ihre Pflegeeltern, sagt Zapf heute. Besonders ihr Pflegevater Hubert wird in diesen ersten drei Lebensjahren zu einer engen Bezugsperson. Sabine geht es gut dort. Zunächst will das Jugendamt, dass Hubert offiziell die Verantwortung für sie übernimmt. Doch ihr Pflegevater passt den DDR-Behörden nicht: In einem Gutachten des Jugendamtes, das Zapf Jahrzehnte später anfordert und einsehen kann, wird ihm eine ablehnende Haltung gegenüber dem Staat attestiert. Er sei nicht vertrauenswürdig, Sabine im sozialistischen Sinne zu erziehen.

Sabine kommt in ein Kinderheim in der Kurstadt Bad Lausick, etwa 40 Kilometer südöstlich von Leipzig. Warum, weiß sie damals nicht. Genauso wenig, dass ihr Pflegevater noch lange danach um sie kämpfen wird. Auch nicht, dass die Behörden ihre Mutter bereits seit Längerem bedrängten, Sabine zur Adoption freizugeben. Im Kinderheim lernt sie ihren späteren Adoptivvater kennen, der damals in der Nähe zur Kur ist. Der Kfz-Schlosser aus Eisenhüttenstadt hat bei seinem Besuch im Heim Westschokolade für Sabine dabei. Seine Ehefrau, der er von ihr erzählt, wünscht sich so sehr ein kleines Mädchen, Sabine gefällt ihr. Eigene Kinder kann das Paar nicht bekommen. Anfang Dezember 1965 wird Sabine wenige Tage vor ihrem fünften Geburtstag adoptiert. Die Unterschrift ihrer leiblichen Mutter fehlt auf der Adoptionsurkunde.

Sabine wächst in Eisenhüttenstadt in Brandenburg auf. Die Stadt an der deutsch-polnischen Grenze gilt in der DDR mit ihrer Mustersiedlung für Arbeiter*innen als erste sozialistische Stadt. Kurz nach dem Tod von Josef Stalin 1953 wird sie bis 1971 in Stalinstadt umbenannt. Sabines Erinnerungen an ihre frühe Kindheit sind gut. Bergab, sagt sie, gehe es ab der siebten Klasse. Da hätten ihre Adoptiveltern, vor allem ihre Adoptivmutter, gemerkt, dass sie nicht mehr so leicht zu kontrollieren sei.

Rausgehen darf Sabine kaum noch, sie steht unter ständiger Aufsicht. Bestraft werden schon Kleinigkeiten: fünf Minuten Zuspätkommen oder eine 4 in Mathe. Die Zeichen von Prügel mit dem Rohrstock trage sie bis heute am Körper, sagt Zapf, beim Jugendamt bittet sie vergeblich um Hilfe. Ihre Eltern beschweren sich sogar beim Jugendamt über sie. Nur einer nachsichtigen Mitarbeiterin dort verdankt sie, dass sie nicht in einen Jugendwerkhof kam – Einrichtungen für Jugendliche, die im Sinne der DDR-Pädagogik als schwererziehbar galten. Zapf erinnert sich noch an den Namen der Mitarbeiterin. Sie erinnert sich an sämtliche Namen von Behördenmitarbeiter*innen, Orten und Straßen sehr genau.

Mein Adoptivvater meinte zu mir: Wenn der Lehrer sagt, die Tür ist rot, dabei ist sie eigentlich schwarz, dann ist die Tür rot. Aber für mich war die Tür immer schwarz.
Sabine Zapf

Sabine Zapf verlässt das Haus ihrer Adoptiveltern, als sie volljährig wird. 1981 beschließt sie mit ihrem damaligen Mann, in den Westen zu fliehen. Doch im sachsen-anhaltinischen Haldensleben, unweit der ehemaligen innerdeutschen Grenze, werden die beiden von Polizisten aufgegriffen und festgenommen. Zapf wird inhaftiert, verhört, kommt in Einzelhaft und wird schließlich in ein Stasi-Gefängnis in Frankfurt/Oder verlegt. Kontakt zu anderen Häftlingen wird unterbunden, die Frauen verständigen sich nur über Klopfzeichen. Jede*r Insass*in muss sich zu Beginn einer ärztlichen Untersuchung unterziehen. Dort erfährt Sabine Zapf, dass sie schwanger ist. Das Kind will sie behalten. "Sie wissen aber schon, dass das nicht geht, Sie werden schon noch sehen", habe ihre Wärterin erwidert.

Zapf hat Glück: Nach vier Monaten im Stasi-Gefängnis beginnt ihre Verhandlung vor Gericht, in einer Zeit, in der es eine Amnestie für DDR-Gefangene gibt. Sie kommt frei, erhält jedoch eine dreijährige Arbeitsplatzbindung, strenge Auflagen und ein Einreiseverbot für Berlin. Im Februar 1982 wird ihre Tochter Sarah* geboren. Was Zapf da noch nicht klar ist: Sarah wird dasselbe Schicksal widerfahren wie ihr selbst. Eines Tages klingelt eine Frau vom Jugendamt an ihrer Tür und nimmt die Dreijährige unter Drohungen mit. Zapf wendet sich an die Behörden, bekommt dort von einer Mitarbeiterin den geheimen Tipp, in ein Kinderheim nach Storkow zu fahren. Immer wieder sind es Einzelpersonen in den DDR-Strukturen, die es gut mit Zapf meinen. So auch eine Erzieherin in Storkow, die ihr heimlich eine Stunde Zeit mit Sarah gewährt. Es ist das letzte Mal, dass sie sich sehen, bis zum Fall der Mauer. Der Mutter bleiben nur zwei Fotos. Niemand gibt ihr Auskunft, wo ihr Kind geblieben ist.

Erst spät erfährt Zapf, was ihr angetan wurde – und wer davon wusste

Als im November 1989 die Mauer fällt, nimmt ihre Adoptivmutter nach jahrelanger Funkstille Kontakt zu ihr auf. 1990 dann ein Anruf: Das Jugendamt in Eisenhüttenstadt wolle Sabine dringend wegen Sarah sprechen. Die Adoption ihrer Tochter soll rückabgewickelt werden – warum und wie das möglich ist, weiß Zapf nicht. Schon kurz darauf kann sie ihre Tochter wieder zu sich nehmen. Doch sie will wissen, was passiert ist und fordert die Adoptionsakten von sich und Sarah an. In den Unterlagen ihrer Tochter finden sich allerhand Fehler und falsche Daten. Ihre eigene Akte bekommt Zapf erst nach langwierigen Bemühungen in die Hände.

Als sie 2018 Kontakt zu Sarahs ehemaliger Adoptivmutter aufnimmt, erfährt sie, dass das Paar diesen Status eigentlich nur auf dem Papier hatte. De facto verbrachte Sarah ihre Kindheit bei Sabine Zapfs Adoptivmutter. Die wusste die ganze Zeit, wo Sarah war – und verheimlichte es ihrer Adoptivtochter.

Ihre Erlebnisse und ihren Schmerz habe sie lange nur mit sich selbst ausgemacht, sagt Zapf. Wer hätte sie schon verstanden, wer ihr geglaubt? Und die Wartezeiten für einen Therapieplatz seien lang. Die 58-Jährige wirkt die meiste Zeit sehr gefestigt und resolut, wird auch mal aufbrausend, wenn sie von ihrer Adoptivmutter und dem Jugendamt spricht. Doch wenn es um den Moment geht, an dem sie ihre Tochter im Kinderheim in Storkow zurücklassen musste, stockt ihre Stimme.

Zu keinem ihrer Familienmitglieder hat sie eine echte Bindung aufbauen können

Heute hat Zapf Halt in der Interessengemeinschaft Gestohlene Kinder der DDR gefunden. Von den zirka 1.500 Mitgliedern gehen 300 bis 400 davon aus, dass der Staat verantwortlich dafür ist, dass man ihnen die Kinder entzog. Im Frühjahr haben sie eine Petition in den Deutschen Bundestag eingereicht, mit der sich derzeit der Petitionsausschuss beschäftigt. Darin fordern sie die Verlängerung von Aufbewahrungsfristen für Akten in Geburtskliniken, die Einrichtung einer zentralen Aufklärungsstelle und eine gesetzliche Auskunftspflicht für alle Adoptivstellen. Der Vorsitzende des Petitionsausschusses Marian Wendt (CDU) will zudem prüfen lassen, ob das Unrecht der Zwangsadoption flächendeckend in der DDR und von zentraler Stelle aus angewandt wurde.

Anders als viele der Gruppenmitglieder, die bei ihren Recherchen auf eine Mauer des Schweigens stoßen, hat Zapf ihre Angehörigen wiederfinden können: ihre leibliche Mutter, ihre Geschwister, ihren Pflegevater und natürlich ihre Tochter. Doch eine familiäre Bindung hat sie – mit Ausnahme der jüngsten Schwester – zu keinem dieser Menschen aufbauen können. Zu viel Zeit sei vergangen. "Es ist zu viel Schmerz, den man nicht vergessen und verarbeiten kann, Schmerz, der nicht vergessen lässt." Neben der Frage, wer ihre Adoptivmutter wirklich war, lässt Sabine Zapf vor allem eine Person nicht los: Die Mitarbeiterin des Jugendamtes in Eisenhüttenstadt, die Sarah damals abholte und die Zwangsadoption all die Jahre begleitete. "Wie konnte sie dabei einfach mitmachen?" Nach ihr sucht Zapf noch immer. Die Frau dürfte mittlerweile über 70 Jahre sein, vielleicht lebt sie auch schon gar nicht mehr.

*Der Name der Tochter wurde geändert. Der echte Name ist der Redaktion bekannt.

Der Artikel wurde am 11. Oktober 2019 aktualisiert.

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