Nach 25 Tagen Marsch erreichte Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der größten türkischen Oppositionspartei (CHP), gemeinsam mit Tausenden Anhänger*innen Istanbul. Im Laufe des Wochenendes wurden aus dem Adalet Yürüyüsü (übersetzt: Marsch für die Gerechtigkeit) zwei Millionen Menschen. Der Protest entwickelte sich zu einem Aufschrei gegen Massenentlassungen, Verhaftungen und die Politik des Staatspräsidenten.

Lange hieß es, es gebe keine geschlossene Opposition in der Türkei. Die Demonstrierenden bewiesen das Gegenteil. Dabei war unklar, wie Präsident Recep Tayyip Erdoğan reagieren würde und ob die Demonstrationen stattfinden können. Erdoğan verunglimpfte die Demonstrant*innen zwar offiziell als Terrorist*innen, griff aber nicht ein. Vermutlich um nicht noch mehr Menschen auf die Straße zu treiben. Zu groß scheint seine Angst zu sein, dass aus dem Marsch für die Gerechtigkeit andauernde Massenproteste werden könnten.

Zu Beginn war der Marsch noch eine recht spontan angelegte Aktion. Am Wochenende wurde daraus eine durchorganisierte Demo der Opposition. Mit T-Shirts, Blumen, Tauben und einer emotionalen Rede im Istanbuler Bezirk Maltepe, wo der Oppositionspolitiker Enis Berberoglu im Gefängnis sitzt. Ein symbolträchtiger Ort also, denn die Verhaftung des CHP-Abgeordneten war der Auslöser des Marschs.

Heuchlerisch, aber unterstützenswert

Im Auslöser steckt auch der Hauptkritikpunkt an der Demonstration. Viele meinen, es wäre heuchlerisch, die CHP zu unterstützen, da sie jahrelang Präsident Erdoğan regieren ließ und erst aufwachte, als eigene Leute eingesperrt wurden.

Diese Kritik ist berechtigt, aber kein Grund die Demonstrationen an sich zu missbilligen. Vielleicht hat es genau die Verzweiflung der CHP gebraucht, um die Opposition endlich zu vereinen und das Fass zum Überlaufen zu bringen. Denn die Opposition hatte bisher genau eine Gemeinsamkeit: die absolute Uneinigkeit.

Alle, die am Wochenende in der Türkei für ihre Rechte auf die Straße gingen, haben damit ihre Freiheit aufs Spiel gesetzt. Denn niemand wusste, wie Regierung und Polizei reagieren würden. Bei den Protesten von Gezi 2013 wurden Tausende Menschen festgenommen, gefeuert oder auf schwarze Listen gesetzt.

Die Türk*innen hätten viele Gründe, um auf die Polizei loszugehen, Gebäude anzuzünden und sich in den Straßen zu verbarrikadieren."

Trotz des Drucks, der auf den Schultern der Demonstrant*innen lastet, blieben sie friedlich. Um es drastisch auszudrücken: Die Türk*innen hätten viele Gründe, um auf die Polizei loszugehen, Gebäude anzuzünden und sich in den Straßen zu verbarrikadieren. So wie es teilweise auch am Wochenende in Hamburg passiert ist.

Stattdessen marschierten sie bei Hitze und Regen durch das halbe Land und protestierten friedlich auf den Straßen. Sie blieben ruhig, obwohl der Frust über die politische Lage in der Türkei unfassbar groß ist.

"Wir leben in einem totalitären Regime, darum macht es mir Hoffnung, dass diese Proteste überhaupt stattfinden konnten", erklärt der 26-Jährige Sinan* aus Istanbul. "Ich wünschte, Kilicdaroglu hätte damit vor dem Referendum begonnen, vielleicht hätten wir eine Chance gehabt."

Die 22-jährige Studentin Belma* sieht die Demonstrationen hingegen ernüchternd: "Ich glaube schon lange nicht mehr, dass sich in unserem Land noch etwas ändern kann. Es ist mir scheißegal, wer demonstriert, ich will nur weg aus der Türkei."

*Namen geändert