Unser Sohn war gerade drei Jahre alt geworden und wollte nicht ins Bett. Alle Eltern kennen das. Der Ratschlag meiner Freundin, ebenfalls Mama: "Da wäre ich konsequent. Nicht diskutieren." Das entlockte mir nicht mehr als ein müdes Lächeln.

Denn es gab etwas, das ich ihr nicht sagen konnte: Die von mir eröffnete Diskussion mit meinem Kind hatte ich beinahe verloren. Gegen einen Dreijährigen. Ich war argumentativ an meine Grenzen gestoßen, als er fragte: "Mama, glaubst du ehrlich, du kannst bestimmen, wann ich mich müde fühle, nur weil du älter bist als ich?" Was kann ich dazu sagen, schließlich hatte er recht. Zum Glück hatte ich noch einen rettenden Einfall. Ich habe ihm von der Fürsorgepflicht erzählt, die uns als seinen Eltern auferlegt wurde. Von unserem elterlichen Auftrag, für ausreichend Schlaf zu sorgen. Er nickte und verschwand wortlos im Bett. Nicht, weil er müde war. Sondern, weil er uns bei der Erfüllung unserer Pflichten nicht in Schwierigkeiten bringen wollte. Die Diskussion über das Zubettgehen hatte ich danach übrigens niemals wieder. Die Möglichkeit, gängige Erziehungsmethoden zu nutzen, auch nicht.

Mama, glaubst du ehrlich, du kannst bestimmen, wann ich mich müde fühle, nur weil du älter bist als ich?

Heute ist unser Sohn neun Jahre alt und besucht nach dem Sommer die sechste Klasse eines Gymnasiums. Nach dem Verschleiß zweier Kindergärten wurde er mit fünf Jahren eingeschult und hat die zweite Klasse übersprungen – an der zweiten Grundschule. Seine erste Klassenlehrerin hatte ihn bereits nach acht Monaten aufgegeben, weil er sich weigerte, seitenweise einzelne Buchstaben zu schreiben und in Mathematik Rechenplättchen zu legen. Ausgelegt wurde das als Unreife. Der wahre Grund war ein anderer: Lesen, Schreiben und Rechnen konnte er schon vor der Schule. Das hatte er sich selbst beigebracht. Auf die Frage, wie ihm das gelungen war, gab er eine Antwort, die er auch heute noch oft gibt: "Das macht mein Kopf alleine."

Auch der Besuch des ersten Gymnasiums endete abrupt: Hier eskalierten die Dinge nach knapp sechs Monaten, weil er das Lösen von Wiederholungsaufgaben verweigerte und die Lehrer*innen mit unpassenden Nachfragen im Unterricht bloßstellte und damit angeblich die pädagogische Autorität untergrub. Ich weiß nicht mehr genau, wie viele fruchtlose Elterngespräche ich in den vergangenen vier Jahren mit Lehrer*innen und Erzieher*innen geführt habe, wie viele Spekulationen über Defizite, Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten ich mir anhören musste. Dabei, so wissen wir mittlerweile, ist mit unserem Kind alles in Ordnung. Er ist nicht beeinträchtigt. Er ist hochbegabt. Nur macht das am Ende keinen großen Unterschied.Mehr zum Thema Schule findet ihr hier

Mit vier Jahren wollte er wissen, was Sterben bedeutet

Hochbegabt. Was für ein blödes Wort. Wann immer ich es ausspreche, beginnen Neid und Missgunst. Nicht nur im Bekanntenkreis, auch und vor allem bei Lehrer*innen und Erzieher*innen scheint das Wort ein Trigger für Aggressionen aller Art zu sein. Viele sehen es als Freifahrschein für ironische Bemerkungen, für Abfälligkeiten und Konkurrenzgehabe. Ich habe viele Meinungen und Ratschläge gehört, aber nur selten die Frage, wie es uns mit dieser Diagnose geht.

Denn uns geht es nicht immer gut. Alles, was unser Sohn tut, fühlt und sagt, ist viel zu intensiv. Als er die Turtles mochte, fand er die Ninja-Schildkröten nicht einfach gut. Er war eine. Nicht nur ein paar Wochen oder Monate lang, fast zwei Jahre lang lebten wir mit Raphael unter einem Dach und hörten tagaus, tagein Geschichten aus New York. Als er entdeckte, dass Menschen unweigerlich sterben – er war vier Jahre alt –, trauerte er. Nicht einen Tag, nicht eine Woche, sondern über Monate sprachen wir über das, was mit dem Körper geschieht, und das, was für ihn viel wesentlicher war: Wohin die Seele geht, wenn der Körper längst nicht mehr da ist.

Wut und Freude, Liebe und Angst – alles erlebt er intensiver, alles geht tiefer. Für uns als Eltern führt das zu absurden Situationen. Wie damals, als er nicht mehr allein ins Obergeschoss unseres Hauses gehen konnte aus Angst, dort könnte ein Einbrecher lauern, der während unserer Abwesenheit eingestiegen war. Erst, als ein Polizist ihm die Wahrscheinlichkeiten genauer erklärte, ebbte die Angst ab. Denn, ja, auch intensive Ängste sind manchmal Nebenwirkung einer Hochbegabung. Ebenso wie ständige Langeweile, die Unfähigkeit, Ungerechtigkeiten auszuhalten, sich unterzuordnen. Oder der lähmende Perfektionismus, der ihn dazu brachte, erst alle seine gemalten Bilder voller Wut zu zerreißen, um dann das Malen ganz einzustellen.Im Kindergarten mutmaßten die Erzieher*innen, er sei krank, definitiv auffällig. Weil er sich zurückzog, kaum mit anderen Kindern spielte. Dabei fühlte er sich dort nur allein. Kein Kind war da, das seinen Humor teilte, ihm das Gefühl gab, dazuzugehören. Er war einsam, nicht gestört. Einsam unter lauter Kindern, die allesamt nicht seine Sprache sprachen.

Wir erziehen nicht, wir begleiten

Mittlerweile geht es ihm gut. Er ist ein glücklicher Junge, auch wenn ihm das Zurechtfinden in hierarchischen Strukturen noch immer Probleme bereitet. Jetzt mit älteren Kindern in einer Klasse und einem meist passenden Anforderungsniveau geht es ihm prima. Als wir erkannt hatten, dass wir unser Kind wohl nie erziehen, sondern immer nur begleiten werden, wurde auch für uns vieles entspannter. Auch, weil sein Verhalten auch ohne unsere Intervention stets untadelig ist. Er ist höflich und freundlich, legt Wert auf Umgangsformen – so lange er das, was von ihm verlangt wird, versteht.

Nun haben wir wieder etwas mehr Zeit. Für unseren zweiten Sohn. Der ist jetzt vier Jahre alt und liebt es, tagaus, tagein von seinem Leben als Dinosaurier zu erzählen. Ich freue mich schon jetzt, dass wir spätestens in zwei Jahren wieder über etwas anderes als das Brutverhalten der Maiasaura werden reden können.

Mehr Texte zum Thema Familie findest du zum Beispiel auch in der Kolumne Klein und groß.

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