Die Kensington Avenue im Norden Philadelphias war einst ein belebtes Viertel: Im 19. Jahrhundert gab es dank der dort angesiedelten Textil-Industrie genug Arbeit für viele Menschen. Diese Zeiten sind lange vorbei: Industrielle Umstrukturierungen führten zu Arbeitslosigkeit und Wegzug. Mittlerweile ist die Kensington Avenue berüchtigt für Prostitution und Drogen. Auf der Straße wird offen mit Heroin, Crack oder anderen Substanzen gedealt, Kriminalität gehört zum Alltag.

Der US-amerikanische Fotograf Jeffrey Stockbridge wollte die Straße und die Menschen, die dort leben, porträtieren. In seinem Projekt Kensington Blues zeigt der 35-Jährige die Menschen, die auf der Kensington Avenue leben. Er hält die Menschen, die Gesichter nicht nur auf Fotos fest, er gibt ihnen auch eine Stimme. Jede Person kann ihre persönliche Geschichte erzählen, welche dann zusammen mit den Porträts auf der Webseite und in dem gleichnamigen Buch veröffentlicht wird. Im Interview erklärt er, wie er auf die Idee kam und was er damit bewegen möchte – ob das Wort Blues dabei für die Musikrichtung oder für Trübsinn steht, bleibt offen.

Wir können von denen, die sich durchkämpfen, lernen.
Jeffrey Stockbridge

ze.tt: Jeffrey, wie kamst du auf die Idee zu deinem Projekt Kensington Blues?

Jeffrey Stockbridge: Von 2004 bis 2008 habe ich die Krise rund um die verlassenen Häuser in Philadelphia dokumentiert. Ich habe die Innenräume Hunderter verlassener Häuser fotografiert und kam dabei oft in Kontakt mit Menschen, die obdachlos und drogenabhängig waren. Zunächst habe ich den Kontakt zu ihnen gemieden, aber mit der Zeit entwickelte ich Beziehungen zu denen, die ich traf, und fing an sie zu fotografieren. Eines Nachmittags traf ich eine Frau namens Millie, die durch ihre Sucht alles verloren hatte und sich der Sexarbeit zuwandte, um zu überleben. Ihre Geschichte war faszinierend, voller Kraft und Schwäche, Glück und Schmerz. Sie kam aus Kensington.

Wie findest du die Menschen, die du fotografierst?

Ich finde die Menschen, indem ich alleine auf der Straße entlanglaufe. Ich halte inne, sage "Hi!" und fange einen Unterhaltung mit ihnen an – dabei führt dann eins zum anderen. Es ist eigentlich ziemlich einfach.

Wie reagieren die Personen, wenn du fragst, ob du sie fotografieren darfst und ob sie ihre Geschichte mit dir teilen wollen?

Die meisten Menschen, die ich treffe, sind zunächst schüchtern, aber nachdem ich ihnen die Fotos aus dem Buch gezeigt habe, finden sie oft den Mut, ihre eigenen Geschichten zu teilen. Ich bringe immer einen Stapel Kopien mit, wenn ich fotografiere. Das zeigt am besten, was ich vorhabe. Worte sind auf der Straße wertlos.

Was möchtest du damit erreichen?

Ich möchte die Opioid-Krise in Philadelphia vermenschlichen, indem ich ihr ein persönliches Gesicht und eine Stimme gebe. Wir können von denen, die sich durchkämpfen, lernen, wenn wir uns von der Vorstellung lösen, dass sie moralisch verdorben sind. Das ist der erste Schritt, um Vorurteile zu bekämpfen und ihre Geschichten zu hören. Opioid-Sucht wird oft nicht richtig verstanden. Das möchte ich ändern.

Welche Geschichte hat dich bisher am meisten gerührt?

Es ist natürlich schwierig, da eine Person zu benennen, aber mir fällt meine Freundin Sam ein. Sie lebt schon lange auf der Kensington Avenue und spricht über ihre Erfahrungen mit großer Offenheit. Außerdem habe ich Krista und Matt fotografiert, als sie stark abhängig waren, und durfte beide Jahre später noch mal fotografieren, als sie clean waren. Ihre Geschichten zeigen, dass Genesung auch für diejenigen möglich ist, die viele Jahre mit ihrem Leben spielen. Deine Vergangenheit muss deine Zukunft nicht bestimmen.

Wie soll es mit dem Kensington Blues weitergehen?

Kensington Blues existiert in verschiedenen Formen und war schon an verschiedenen Orten. Zuletzt habe ich die Reihe im Philadelphia Museum of Art gezeigt. Das war eine gewaltige Erfahrung und eine tolle Möglichkeit, um meine Arbeit mit den Menschen aus Philadelphia zu teilen. Ich möchte, dass die Ausstellung um die ganze Welt geht, damit andere sie sehen und erleben können. Die Webseite ist zwar gut, um Menschen auf meine Arbeit aufmerksam zu machen, aber man kann es nicht mit dem Erlebnis vergleichen, wenn man die Arbeit tatsächlich erlebt, wenn man sich Kopfhörer aufsetzt und den Menschen auf den Bildern zuhört. So ist der Kensington Blues am wirkungsvollsten. Derzeit dokumentiere ich weiterhin die Opioid-Krise in Philadelphia. Ich habe mich mit dem Reporter Courtenay Harris-Bond zusammengetan und wir arbeiten gemeinsam an vielen Geschichten, welche wir auf der Seite Embedded in the Badlands zeigen. Außerdem arbeite ich an Geschichten über Heilung. Viele Menschen, die ich in den vergangenen Jahren fotografiert habe, sind mittlerweile clean und ich möchte ihre Genesung feiern, indem ich ihre Geschichten auf meinem Blog festhalte.

Deine Vergangenheit muss deine Zukunft nicht bestimmen.
Jeffrey Stockbridge

Mehr von Jeffrey Stockbridge findet ihr auf seinem Instagram-Account oder auf seiner Webseite