"Inmitten dieses turbulenten Lateinamerikas ist Chile eine wahre Oase mit einer stabilen Demokratie." Diese Worte stammen vom chilenischen Präsidenten Sebastian Piñera, und sie sind gerade mal 16 Tage alt. Unmittelbar darauf fingen die ersten Student*innenproteste an. Der Grund: Die Regierung wollte die ohnehin schon hohen Preise für den öffentlichen Nahverkehr in der Hauptstadt Santiago erhöhen – um 30 Pesos oder vier Cent. Für viele Chilen*innen war das die Spitze eines Eisbergs von sozialen Ungerechtigkeiten und einer Ungleichheit, die Arm und Reich immer weiter voneinander trennt. Student*innen begannen mit sogenannten Evasiones Masivas. Ganze Gruppen sprangen über die Drehkreuze der U-Bahn-Eingänge, ohne zu zahlen. Vergangenen Freitag eskalierten die Proteste: Vermummte zündeten mehrere U-Bahn-Stationen in der Metropole an, Züge und Busse gingen in Flammen auf. Auch das Geschäftsgebäude eines Stromunternehmens fing Feuer. Nur zwölf Tage nach seiner Oasen-Äußerung sprach Präsident Piñera von einem "Krieg gegen einen mächtigen Feind", in dem sich Chile gerade befände.

Nach den Brandstiftungen rief die rechte Regierung den Ausnahmezustand in Santiago de Chile aus und beauftragte das Militär damit, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Es war das erste Mal seit der Militärdiktatur Augusto Pinochets, dass auf den Straßen der Hauptstadt Panzer rollten. Die Bevölkerung antwortete mit Wut, die Proteste weiteten sich auf das ganze Land aus. Piñera verhängte nächtliche Ausgangssperren in vielen großen Städten. 15 Tote wurden laut Regierung bisher verzeichnet. Mittlerweile hat Piñera die Preiserhöhung im Nahverkehr zurückgezogen, sich bei der chilenischen Bevölkerung entschuldigt und ein Reformpaket angekündigt. Den Bürger*innen aber geht das nicht weit genug, die Proteste auf den Straßen gehen weiter. Im Internet kursieren Videos von Polizeigewalt und Machtmissbrauch auf der einen und gewaltsamen Protestant*innen und Plünder*innen auf der anderen Seite. Was sagen junge Chilen*innen zu den Unruhen, was haben sie selbst erlebt? Sechs von ihnen erzählen von ihren Erfahrungen auf den Straßen Chiles. Die Protokolle geben die Erfahrungen und Meinungen der Personen aus ihrer eigenen Erzählung wider und können kein vollständiges Bild der Lage in Chile geben.

Beatriz, 23, Studentin aus Santiago: "Wir sind rausgegangen, um zu protestieren. Mit Kochtöpfen. Und unser Präsident schickt das Militär auf die Straße"

© Foto: privat, Bearbeitung: ze.tt /​ Elif Kücük

Es ist schwer, in den letzten Tagen an etwas anderes zu denken als an das, was gerade auf den Straßen passiert – und das alles wegen der Preiserhöhung. Ich habe mir die Frage gestellt: Was kann ich jetzt tun? Ich bin privilegiert, komme aus der oberen Mittelschicht und war auf einer privaten Schule, jetzt gehe ich zur Uni. Das ist nicht für alle chilenischen Familien selbstverständlich. Wir sind keine Oase in Südamerika, wie Piñera behauptet. Wenn überhaupt, dann wirtschaftlich. Aber wir sind auch eines der ungleichsten Länder der Welt. Deshalb kann ich nicht diejenigen verurteilen, die darüber empört sind. Und zwar so empört, dass sie Dinge kaputt machen.

Am Plaza Italia, im Herzen der Hauptstadt, ist die Repression bei den Demonstrationen unglaublich groß. Das Militär schießt mit Tränengas in die Menge. Da, wo auch Kinder stehen, Senior*innen, Menschen mit Behinderung. Natürlich gibt es gewaltsame Auseinandersetzungen mit vermummten Randalierer*innen. Aber dort, wo sie auf uns geschossen haben, haben die Menschen friedlich protestiert. Ich habe den Schmerz des Tränengases gespürt. Meine Nase fing an zu laufen, meine Augen tränten. Es lag dieses Gefühl in der Luft, dass die Stimmung kippen könnte. Aber wir müssen weiter protestieren, wir müssen weiter zusammenhalten. Dann eben mit Schutz auf Mund und Nase.

Wir sind eines der ungleichsten Länder der Welt.
Beatriz

Es ist traurig: Einen Tag sind wir rausgegangen, um zu protestieren. Mit Kochtöpfen. Und unser Präsident schickt das Militär auf die Straße. Seit über vier Tagen leben wir mit einer Ausgangssperre, ich habe das Gefühl, dass ich mich schon daran gewöhne, nachts nicht rauszugehen. Wir dürfen das nicht normalisieren. Meine Eltern haben unter Pinochet 17 Jahre lang mit einer Ausgangssperre gelebt. Ich bin die Tochter eines politisch Vertriebenen, ich bin die Cousine eines politisch Hingerichteten, ich bin Cousine und Nichte von Gefolterten. Ich möchte das nicht selbst erleben. Und ich möchte das nicht für die folgenden Generationen. Wir möchten ein freies und faires Chile. Deshalb kämpfen wir diesen Kampf. Und diesen Kampf kämpfen alle, die Rechte und die Linke, die Armen und die Reichen. Trotzdem ist der Dialog schwer, denn diese Bewegung hat keine*n Anführer*in, mit dem*der die Regierung reden könnte.

Carlos*, 28, Student aus Valparaiso: "Ich bin zu der Demonstration gegangen, weil es für mich keine Demokratie in Chile gibt"

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Ich habe gesehen, wie während einer Demonstration ein Supermarkt ausgeraubt wurde. Es war krass, diese Gewalt einmal live zu sehen. Aber gleichzeitig herrschte kaum Unruhe bei der Demonstration selbst, eher ein Gefühl von Zusammenhalt. Es gab eine Musikgruppe mit Blasinstrumenten, die Lieder wie Bella Ciao oder Pueblo Unido, ein symbolisches Lied des Widerstands gegen die Diktatur, gesungen hat. Viele Menschen raubten auch notwendige Güter, sogar so was wie Hundefutter, und verteilten sie unter den Demonstrant*innen.

Das, was sich gerade auf den Straßen äußert, ist eine lange unterdrückte Wut.
Carlos

Meiner Meinung nach haben wir Chilen*innen das Recht, auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Es ist ein Menschenrecht. In Frankreich gibt es die Gelbwesten, in Hongkong gibt es Massenproteste, auch dort gab es viele gewaltsame Auseinandersetzungen. Aber es ist anders. Wir erleben in Chile gerade die gewaltsamsten Tage, seit ich mich erinnern kann. Aber ich fühle keine Angst. Die Gewalt der Leute richtet sich nicht gegeneinander, sondern gegen die Regierung. Ich habe das Gefühl, wir haben im Moment in Chile keine einzige Partei, die die Bedürfnisse und Forderungen der Gesellschaft widerspiegelt. Das, was sich gerade auf den Straßen äußert, ist eine lange unterdrückte Wut.

Ich bin zu der Demonstration gegangen, weil es für mich keine Demokratie in Chile gibt. Wir haben nach wie vor eine Verfassung, die in weiten Teilen während der Diktatur erarbeitet wurden. Wir haben Gehälter der dritten Welt und Preise der ersten. Unsere Busse werden von Senior*innen mit müden Gesichtern gefahren. Mein Vater ist pensioniert und bekommt eine Rente von 30 Prozent seines letzten Gehaltes. Das ist schon wenig, aber mehr als das, was die Hälfte der Chilen*innen verdient. Die Dinge müssen sich verändern, und die Politiker*innen müssen ihrem Volk zuhören.

Constanza, 25, Journalistin aus Santiago: "In den sozialen Medien kam schnell Panik auf. Es war die Rede davon, dass die Polizei die Leute attackiert"

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Als die Ausschreitungen losgingen, habe ich gesehen, wie vor einem Supermarkt mit Tränengas geschossen wurde. Die Wolke war riesig. Menschen rannten verzweifelt in alle Richtungen davon, einige in den Supermarkt und holten dort säckeweise Zitronen raus. Diese wurden dann unter den Umherstehenden verteilt, um mit der Säure die Schmerzen des Gases zu lindern. Am Nachmittag war ich über Stunden in der Arbeit eingesperrt, sie wollten niemanden rauslassen. Draußen standen viele Student*innen und wollten rein, um Schutz zu suchen. Aber man hat sie nicht reingelassen. Um sie herum liefen viele Leute und hielten sich das Gesicht, ihre Augen tränten. Es kam schnell Panik auf, in den sozialen Medien war die Rede davon, dass die Polizei schießt und die Leute attackiert. Als man mich endlich aus der Uni herausgelassen hat, bin ich zweieinhalb Stunden zu Fuß bis in den Süden Santiagos gelaufen, um nach Hause zu kommen. Dabei habe ich so viele Menschen auf der Straße gesehen wie noch nie, an allen möglichen U-Bahn-Stationen fanden Cacerolazos statt (Anm. d. Red.: das Schlagen auf Kochtöpfe, eine historische Protestform in Südamerika). Ich habe eine ganze Reihe von U-Bahn-Stationen brennen sehen und die Feuerwehr, die versucht hat, die Flammen zu löschen.

Ich gehe auf die Straße, weil ich das Gefühl habe, es ist meine Pflicht.
Constanza

Am nächsten Tag bin ich in Puente Alto selbst auf die Straße gegangen, um zu protestieren. Puente Alto ist eine Kommune im südlichen Teil Santiagos. Ich lebe dort seit 23 Jahren und weiß, warum es den Menschen schlecht geht. Von Puente Alto aus braucht man über eine Stunde, um an irgendeinen Punkt in Santiago zu gelangen. Die Gehälter sind schlecht, die medizinische Versorgung ist schlecht. Die Lebensumstände sind deprimierend, die Leute erfahren viel Ungerechtigkeit. Die Demonstration war trotzdem friedlich, es wurde getanzt, gesungen, Autos zugewunken. Bis die Polizei mit Tränengas kam. Die Leute begannen, davonzulaufen. Ich lief an der Seite einer Mutter, die ihr fünfjähriges Kind im Arm trug. Mich hat das sehr wütend gemacht: Die Mutter hat ihre Tochter nicht mitgenommen, damit sie Gewalt erlebt. Sondern, damit sie nicht dieselbe Ungerechtigkeit erfährt wie sie selbst.

Montags habe ich wieder demonstriert. Es war nachmittags und zu einem Zeitpunkt, zu dem nicht viele Menschen draußen waren, weil kurz zuvor wieder mit Tränengas geschossen wurde. Nachdem sich das Gas verzogen hatte, wurde weiterdemonstriert. Als ich abends nach Hause ging, habe ich mitbekommen, dass die Polizei wieder mit Tränengas zurückkam. Und dass sie begann, mit Munition zu schießen. Sie haben einen jungen Mann getroffen. Ich weiß nicht, ob er Unruhe gestiftet oder Widerstand geleistet hat. Und ich weiß nicht, ob er überlebt hat. Mich macht es bis heute so wütend, dass eine völlig friedliche Demonstration so enden musste. Ich habe Angst, aber von der lasse ich mich nicht paralysieren. Ich gehe auf die Straße, weil ich das Gefühl habe, es ist meine Pflicht.

Patty, 25, Studentin aus Santiago: "Ich bin in den letzten Tagen immer wieder unterwegs und auf der Suche nach offenen Supermärkten, um Essen für mich und meine Familie zu kaufen"

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Ich weiß, dass den meisten Leuten 30 Pesos wahrscheinlich wenig vorkommen. Aber in letzter Zeit sind auch die Strom- und Wasserkosten angestiegen, es gibt Probleme mit der Auszahlung von Renten, die ohnehin immer niedriger werden. Die Leute haben genug. An allen Tankstellen sind seit den Protesten ewig lange Schlangen. Viele wurden angezündet oder haben schon keinen Kraftstoff mehr. Die Supermärkte sind wegen der Überfälle geschlossen, wir können kein Essen kaufen. Die letzten Tage bin ich immer wieder unterwegs und auf der Suche nach offenen Supermärkten, um Essen für mich und meine Familie zu kaufen. Aber hier im Zentrum ist es schwierig, etwas zu finden. Mittlerweile öffnen manche Supermärkte für ein paar Stunden, aber die Schlangen sind so lang, dass nicht alle reingelassen werden. Ich habe es bisher nicht geschafft. Noch haben wir Essen, aber je nachdem, wie lange dieser Zustand anhält, könnte die Versorgung schwierig werden.

Das Militär hier in Santiago behauptet, es sichere alle U-Bahn-Stationen, damit keine weiteren mehr brennen. Aber am Samstag, als die Station Ñuble vor meinen Augen angezündet wurde, waren weder Polizei noch Militär da. Dabei ist Ñuble eine der wichtigsten Stationen, weil sie Umsteigepunkt einer neuen U-Bahn-Linie ist. Wir haben versucht, die Vandal*innen davon abzuhalten, neben der U-Bahn-Station auch noch die angrenzenden Geschäfte abzubrennen. In der Nähe meines Zuhauses gibt es Demonstrationen, immer wieder fahren hier Militärfahrzeuge vorbei. Sie sind mit Waffen unterwegs, mit Gewehren und Maschinenpistolen. In Chile wird geschossen, es gibt Tote, vieles erinnert an 1973 (Anm. d. Red.: damals kam Pinochet an die Macht).

Constanza, 25, Sonderpädagogin aus Santiago: "Die Studierenden haben das Land aufgeweckt, aber wir sind nicht im Krieg"

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Die meisten von uns Arbeiter*innen hatten Angst, auf die Straße zu gehen. Dank der Studierenden hat diese Bewegung angefangen. Sie haben Chile aufgeweckt. Jetzt sind wir alle auf der Straße. Es geht hier nicht nur um die 30 Pesos, die wir Erwachsenen mehr zahlen müssen. Jetzt kommen die ganzen 30 Jahre ans Licht, die wir schon unterdrückt werden. Unterdrückt durch niedrige Löhne, unterdrückt durch niedrige Renten, durch die hohen Preise der Lebenshaltung.

Letzten Freitagabend bin ich zu einem friedlichen Cacerolazo in der Nähe meines Zuhauses gegangen, mit meiner 14-jährigen Nichte. Später am Abend waren plötzlich Polizeiautos in meiner Straße und schossen, aus dem Nichts. Mitten vor meiner Haustür. Sonntags habe ich gemeinsam mit ein paar anderen die Ausgangssperre ignoriert und an einer U-Bahn-Station protestiert. Die Polizist*innen, die vor Ort waren, versicherten uns, sie würden uns nichts tun. Danach verbrachten wir den Abend bei meiner Oma. Trotz der Ausgangssperre wollten wir noch zurück nach Hause, es war nicht weit. Auf dem Weg fuhren drei Panzer an uns vorbei. Wir kamen wieder zu der U-Bahn-Station, an der noch immer die gleichen Polizist*innen standen, und baten sie um Hilfe. Einer von ihnen sagte uns, das Militär komme von beiden Seiten und wir hätten noch drei Minuten, um nach Hause zu gehen.

Ich bin schon ein bisschen müde davon, den ganzen Tag auf der Straße zu sein, gegen Kochtöpfe zu schlagen.
Constanza

Ich frage mich, wann die Leute müde werden. Ich bin schon ein bisschen müde davon, den ganzen Tag auf der Straße zu sein, gegen Kochtöpfe zu schlagen. Aber die Menschen werden nicht müde, sie bleiben auf der Straße, sie springen immer wieder, sie tanzen und sie singen. Wenn sie Chile despertó (Anm. d. Red.: Chile ist aufgewacht) singen, ist das sehr berührend. Denn genauso ist es: Chile despertó. Die Studierenden sind aufgewacht, und das ganze Land mit ihnen. Aber wir sind nicht im Krieg.

Alejandra, 25, Zahnarzthelferin aus Santiago: "Eine der Gaspatronen landete in meinem Gesicht"

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Am Montag bin ich auf eine friedliche Demonstration in Puente Alto gegangen, in der Peripherie Santiagos. Um sechs Uhr abends protestierten wir dort noch ruhig miteinander, wir sangen alle zusammen, Familien, Kinder, Senior*innen, junge Menschen. Für ein faireres Chile. Um zwanzig vor Acht hörte ich Schreie, dass das Militär anrückt – um acht Uhr fing die Ausgangssperre an. Ich rannte, so schnell ich konnte, in Richtung meines Zuhauses. Noch auf dem Weg hat das Militär angefangen, auf uns zu schießen, die Polizei warf Tränengas. Eine der Gaspatronen landete in meinem Gesicht, ich fragte an den Häusern nach Hilfe. Bei einem machte eine ältere Dame auf, ließ mich herein und gab mir Wasser mit Hydrogencarbonat und Zitronen, um die Schmerzen zu lindern. Als ich wieder losziehen wollte, war es bereits nach Acht.

Wir gehen mit Kochtöpfen auf die Straße, sie mit Patronen.

Die Dame bot mir an, die Nacht in ihrem Haus zu verbringen, bis die Ausgangssperre um sechs Uhr morgens wieder endete. Ihre Hilfsbereitschaft war überwältigend, sie gab mir Essen und einen Schlafplatz. Dank ihr musste ich mich nicht auf der Straße erneut dem Militär entgegenstellen und konnte am Morgen darauf gesund und unversehrt nach Hause zurückkehren. Das, was die Regierung und das Militär gerade machen, ist Machtmissbrauch. Wir gehen mit Kochtöpfen auf die Straße, sie mit Patronen.

* Name geändert