Keine Beziehung kommt ohne Probleme aus. Egal, ob es sich um eine Ehe, eine Freund*innenschaft oder eine Familie handelt: Streits sind in allen Beziehungskonstellationen völlig normal. In der Regel werden die Probleme angesprochen, diskutiert und am Ende vertragen sich die Parteien wieder. Oder die Beteiligten beschließen im Extremfall, ihre Verbindung aufzulösen. Partner*innen beenden ihre Beziehung, Freund*innen ihre Freund*innenschaft, Familien gehen auf Distanz.

Immer wieder beschließen Menschen aber auch, scheinbar von einem Tag auf den anderen, komplett den Kontakt abzubrechen. Am häufigsten kommt ein solcher Kontaktabbruch in der Familie vor. Meist sind es Kinder, die sich von ihren Eltern lösen. Für die Eltern scheint es so, als hätten die Kinder den Abbruch nicht angekündigt, kein letztes Gespräch gesucht, als seien sie ohne eine Erklärung verschwunden. Fortan herrscht Stille. Manche Kinder verlassen sogar die Stadt, um woanders ein neues Leben zu beginnen.

Ein solches Schweigen wird von verlassenen Eltern als große Verletzung und Enttäuschung empfunden. Sie quälen sich häufig jahrelang mit der Frage: Warum hat er*sie mir das angetan? Wie konnte mein Kind, dem ich so nah bin, sich dazu entscheiden, abrupt auf Distanz zu gehen? Aber auch für die Abbrecher*innen, die die Entscheidung zum Kommunikationsende getroffen haben, ist ein solches Schweigen seelisch belastend. Denn in der Regel kommt diese Entscheidung ganz und gar nicht unvorhergesehen: Häufig geht ihr eine lange Unzufriedenheit in der Familie und in der Beziehung zu den Eltern voraus.

Wie fühlen sich Menschen, die sich zum Kontaktabbruch entscheiden? Und können Familien wieder zueinanderfinden? Claudia Haarmann ist psychotherapeutische Heilpraktikerin und Autorin des Buches Kontaktabbruch in der Familie. Sie hat zahlreiche Abbrecher*innen sowie Verlassene kennengelernt und ihnen geholfen, mit dem Abbruch umzugehen. Im Interview erklärt sie das Phänomen und Lösungsansätze.

ze.tt: Frau Haarmann, den Kontakt zu Menschen abzubrechen, die eine*m nahestehen, eine*n sogar lieben, ist ein extremer Entschluss. Häufig gelten Abbrecher*innen als die Bösen. Ist das so einfach?

Claudia Haarmann: Nein. Denn niemand bricht von jetzt auf gleich den Kontakt ab. Das ist ein Prozess, der sich über Jahre vollzieht und dem ein großer Stress vorausgeht. Für beide Seiten ist das ein psychisch und emotional ganz schwieriger Schritt.

In welchen Beziehungskonstellationen findet ein Kontaktabbruch am häufigsten statt?

Meiner Erfahrung nach sind es meist erwachsene Kinder, die den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen. Menschen in ihren Dreißigern bis Vierzigern, die sagen: Ich finde keinen Konsens mit meinen Eltern, sie verstehen mich einfach nicht.

Warum vollziehen Kinder erst im Erwachsenenalter diesen Schritt?

Häufig erkennen Menschen erst, wie belastet eine Beziehung ist, wenn sie ausgezogen sind und Beziehungen zu Menschen außerhalb der Familie aufgebaut haben. Dann reflektieren sie, dass die sogenannte Normalität ihrer Kindheit, die Familienatmosphäre schon immer belastet war und ihnen wird bewusst, wie viel Stress in der Familie war und ist. In der Regel unternehmen erwachsene Kindern viele Versuche, ihren Eltern zu signalisieren: Es tut mir nicht so gut, wie das hier zwischen uns läuft. Aber wenn die Eltern nicht darauf eingehen können, weil sie keine Wahrnehmung für die Störungen haben, wenn die Familie nur noch Stress bedeutet, dann entscheiden die Kinder: So kann ich das nicht weiter machen. Ich will, aber es ist mir ganz wichtig, jetzt Distanz einzunehmen.

Es gibt keine Statistiken über Kontaktabbrüche. Wie häufig ereignen sie sich Ihrer Erfahrung nach?

Sehr oft. Ich bekomme zahlreiche Zuschriften zu Kontaktabbrüchen. Es kann unwahrscheinlich viel Stress in Familien herrschen. Und ich habe den Eindruck, es nimmt massiv zu, dass Familien auseinanderbrechen.

Welche Gründe gibt es dafür?

Wenn über 50-Jährige zu mir kommen, berichten sie mir häufig, dass ihr Verhältnis zu den Eltern eher kalt war. Sie berichten von Eltern, die keine Liebe zeigen, kein Gefühl von Geborgenheit vermitteln und nicht einmal warmen Körperkontakt herstellen können. Bei jüngeren Menschen beobachte ich hingegen das Phänomen des, wie ich es nenne, Überliebens. Es kommen beispielsweise Mütter zu mir und sagen: Ich verstehe nicht, wie mein Kind den Kontakt abbrechen konnte – es ist doch mein Ein und Alles.

Liebe ist, zu sagen: Ich bin für dich da, gleichzeitig darfst du aber so sein, wie du bist. Liebe ist eben auch, die Autonomie des anderen zu respektieren.
Claudia Haarmann

Und genau das war dann womöglich das Problem.

Ja. Kinder, die Überliebe erfahren, haben das Gefühl, nicht frei atmen zu können. Sie stellen im Erwachsenenalter fest: Meine Eltern denken immer nur im Wir. Sie haben aber keine Ahnung davon, was mein Leben ausmacht. Diese Kinder vollziehen einen Kontaktabbruch, um frei zu sein. Für die Eltern ist das nicht nachvollziehbar, weil sie nicht verstehen, was Liebe bedeutet. Liebe ist, zu sagen: Ich bin für dich da, gleichzeitig darfst du aber so sein, wie du bist. Liebe ist eben auch, die Autonomie des anderen zu respektieren. Immer, wenn es ein Zuviel oder Zuwenig gibt, entsteht ein Problem.

Das bedeutet, ein Kontaktabbruch kann auch etwas Heilsames für beide Seiten sein?

Ja. Für den Kontaktabbruch gibt es auch den Begriff der Funkstille. Der stammt aus der Schifffahrt. Wenn ein Schiff in Not gerät, müssen die Schiffe der Umgebung alle Geräusche abschalten, um den in Not Geratenen zu orten. Wenn Menschen den Kontakt abbrechen, senden die Kinder damit das Signal: Ich bin in Not und ich bin mit der Kommunikation nicht einverstanden. Es gibt viele Eltern, die das als aufrüttelndes Signal verstehen, die sich davon berühren lassen und sich selbst hinterfragen. Dann realisieren sie, dass ihre Wahrnehmung von der Familie eine andere ist als die des erwachsenen Kindes. Kürzlich hat eine Frau zu mir gesagt: Ich bin wegen meiner Tochter gekommen – und jetzt bin ich bei mir gelandet.

Einen Kontakt wiederherzustellen, bedeutet also für die Eltern zu verstehen, dass sie das Problem waren?

Wenn die Eltern anfangen, sich in die Schuhe der Kinder zu stellen, dann ist eine Entwicklung möglich. Eltern müssen verstehen, dass sie keine Verlassenen sind, sondern entlassen müssen. Als Eltern gibt man seinem Kind eine Basis, Halt und Sicherheit, damit es sein eigenes Leben leben kann. Bei einem Kontaktabbruch empfehle ich den Eltern, ihren Kindern den Raum zu geben, sich selbst zu finden.

Das bedeutet aber auch eine harte Geduldsprobe für die Eltern.

Möglicherweise. Eltern brauchen in ihrer Kohorte Menschen, mit denen sie sich austauschen und über alles reden können. Die Kinder sind keine Freunde oder gar Partner, sondern die nächste Generation.

Wie gelingt nach der Distanz wieder eine Annäherung?

Es gibt einen Satz, der sich bewährt. "Wahrheit öffnet" – wann immer sich der Tag richtig anfühlt, an einem neutralen Ort reden. Aufrichtig benennen: Was bewegt mich, was war schwierig, was wünsche ich mir. Wenn Eltern und erwachsene Kinder diese subjektiven Wahrheit zulassen, dann geht was weiter.

Viele Probleme innerhalb der Familie werden von Generation zu Generation weitergetragen.
Claudia Haarmann

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die jungen Generationen heute sensibilisierter für psychologische Themen sind und ihre Gefühle häufiger thematisieren. Bedeutet das, das Phänomen des Kontaktabbruchs wird irgendwann seltener auftreten?

Die jungen Generationen pflegen engere Freundschaften, man spricht ja auch von Wahlverwandtschaften, in denen sie offener miteinander reden als ihre Eltern. Junge Menschen sind eher in der Lage, in Intervention mit sich selbst zu gehen. Das ist gut, es schützt aber vor dem Stress in der Familie nicht. Es hilft dabei, ihn besser zu bewältigen. Sie müssen bedenken: Wir sprechen über das Transgenerationale. Das bedeutet, viele Probleme innerhalb der Familie werden von Generation zu Generation weitergetragen. Wenn es in der Großelterngeneration einen Mangel an Nähe gab, wirkt sich das auf die Elterngeneration aus und schließlich auch auf die Enkel.

Sich mit einem Kontaktabbruch auseinanderzusetzen, bedeutet also auch immer, die Familiengeschichte aufzuarbeiten.

Das gehört dazu, ja.

Mehr zum Thema auf ze.tt

Die Beziehung zwischen Kind und Eltern ist die engste unseres Lebens. Warum bricht sie manchmal und wie gehen Betroffene damit um? In der sechsteiligen Serie Ohne meine Eltern sind wir dieser Frage nachgegangen. Unter dem Kontaktabbruch leiden beide Seiten. Wir konzentrieren uns in der Serie allerdings auf die Sicht der Kinder. Hier findest du eine Übersicht aller Beiträge.